Zum Porträt Christina Kettering, Schwarze Schwäne
DIE AUTORIN
Christina Kettering, 1980 geboren, studierte von 2000 bis 2005 am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Anschließend organisierte sie Lesungen und Veranstaltungen in Köln, war als Dramaturgin an verschiedenen freien Theatern tätig und organisierte und entwickelte Performances im öffentlichen Raum in Berlin-Kreuzberg. 2004 war sie Gast beim Forum junger Autor_innen Europas der Biennale «Neue Stücke aus Europa» in Wiesbaden und Frankfurt/Main. 2006 hat sie am Workshop für Nachwuchsdramatiker_innen des Berliner Stückemarktes teilgenommen.
Sie lebt seit 2008 in Berlin und arbeitet dort seit 2010 als freie Dramaturgin am Kindertheater akrena. Seit 2012 arbeitet sie auch als Workshopleiterin für Mitspielgelegenheit e.V.
Ihr Stück ANTARKTIS, 2014 am Kaltstart-Festival in Hamburg in einer szenischen Lesung vorgestellt, wurde 2015 in der Regie von Friederike Barthel im Hamburger Sprechwerk uraufgeführt. Andere Stücke von Christina Kettering sind Der Gast (2004), Josefines Besuch (2006), Lost in the Supermarket (2010) und das Kindertheaterstück Los Lilli, hex! (2007), die Rechte liegen beim Drei Masken Verlag.

DAS STÜCK
1989 hat der Antarktisforscher Werner, der in der DDR-Forschungsstation «Georg Forster» arbeitet, Nadja, ebenfalls Antarktisforscherin aber aus der BRD, 13.000 km von der Berliner Mauer entfernt über Funk kennen- und liebengelernt; sie treffen sich erst später in Deutschland. 1991 ist das Baby – Ina – da, und die Station «Georg Forster» wird nach und nach zugunsten der westdeutschen Station abgebaut.
Werner klammert sich an die Vergangenheit, bleibt lieber, als einer der Letzten, noch im Eis, als zu Nadja in die westdeutsche Provinz zu ziehen – was ihm Nadja vorwirft, die nicht glücklich damit ist, alleine mit dem Baby zuhause zu bleiben und zugunsten Werners auf ihre Arbeit zu verzichten.
Aber die Situation ändert sich, später ist es Werner, der mit dem Kind zuhause bleibt, wegen psychischer Probleme ausgemustert, «aussortiert», wie er sagt, während Nadjas Karriere wieder Aufschwung nimmt.
Heute: Der Mittsechziger Werner ist allein. Nadja ist tot, Werners Verstand und sein Körper werden von Alzheimer angenagt. Ina, die Tochter von Nadja und Werner, jetzt eine 23-jährige Studentin, pflegt ihren erkrankten Vater, ist aber überfordert mit dieser Aufgabe.
Auf der Suche nach Information im Internet stösst sie auf das Online-Programm «Daytrack», dessen Mitglieder sämtliche Dokumente, Fotos oder Papiere, aber auch ihre täglichen Aktivitäten, vom Schlafrhythmus über eingenommene Kalorien bis hin zur Frequenz, mit der sie Sex haben, einspeichern. Das Ziel ist es, ihren Tagesablauf zu optimieren, ihr Leben in völliger Transparenz mit dem Rest der «Community», aber auch post-mortem mit ihren Nachfahren zu teilen. Ina sieht darin eine Möglichkeit, gegen das «Whiteout», das ihren Vater – und vielleicht später sie selbst? – bedroht, anzukämpfen. Deshalb nimmt sie ihre Gespräche mit ihm auf und kommentiert in Online-Tagebucheinträgen seinen fortschreitenden Verfall.
Auf Daytrack lernt sie auch den 35-jährigen Jens kennen. Die Beziehung, die sich zwischen den beiden anbahnt, ist aber zum Scheitern verurteilt, Jens ist kaum mehr fähig, ausserhalb des Internets zu leben, er kommentiert und archiviert jedes kleinste seiner Erlebnisse direkt, anstatt es tatsächlich zu leben.
Die Spielorte können einerseits geographisch zugeordnet werden – Werners Wohnung zum Beispiel – aber es gibt auch Orte wie «Das Internet» und «Die Erinnerung ». Orte, die schlussendlich ebenso real sind wie die physischen Orte. Wenn nicht noch mehr, und das nicht nur in Werners Kopf.
Gegenwart und Vergangenheit, reale Orte und Erinnerungsfetzen, Lebende und Tote, reelle und virtuelle Menschen fliessen ineinander. Zum Beispiel, wenn Werner in voller Antarktisausrüstung in seiner Wohnung herumirrt und sich aufmacht, im Weiss eines Schneesturms, bei -48°C, Messungen zu machen. Und Nadja – oder ihr Geist oder eine Fata Morgana (die nur Werner sieht und nicht Ina, als ob sich zwei Parallelwelten gleichzeitig auf der Bühne befänden) – für immer jung (zwischen 30 und 40) in Werners Erinnerung, mit ihm spricht. Das erscheint dann auch uns als dem Publikum fast realer als der im Internet gefangene Jens (obwohl er von einem Schauspieler auf der Bühne verkörpert wird) oder der Chor der Stimmen der Daytrack-Community…
Ein Blick in den Text…
« Schau mal, das ist mein Smartphone, damit nehme ich das hier auf, unser Gespräch, damit ich später nicht alles aus dem Gedächtnis – macht dir doch nichts aus?
Ist wichtig, damit ich nicht mal das gleiche Problem habe, wie –
(Pause) »
Ein Stück, das mit viel Vorstellungskraft und – in wahrsten Sinne des Wortes – Weitsicht (Welt-)Geschichte und (Familien- und Generationen-)Geschichten miteinander verbindet – und manchmal ungewohnte Schwerpunkte setzt: Den Mauerfall erleben Nadja und Werner von weitem, von einer Forschungsstation in der Antarktis aus, das allmähliche Verschwinden Werners im ewigen Eis des Vergessens kriegt seine Tochter hautnah mit.
Die ersten Szenen lassen kurz befürchten, dass wir uns im x-ten Stück über Big Brother und andere Gefahren des Internets befinden, aber dann wird dieses Thema sehr intelligent eingebunden, insbesondere mit der Parallele des Funks in der Vergangenheit und dem Internet heute. Nadja und Werner kommunizieren zunächst per Funk und lernen sich erst in Deutschland persönlich kennen – genauso wie sich 25 Jahre später Ina und Jens über das Internet kennenlernen… Und in beiden Generationen ist die Begegnung von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Das Stück ist sehr gut konstruiert, die Zeitsprünge, Flashbacks und Parallelhandlungen zwischen Vorstellung und Wirklichkeit fliessen sehr natürlich ineinander über. Ausserdem hat Kettering ihren Text auch sprachlich und rhythmisch interessant durchkomponiert, mit thematischen, sonoren und verbalen Leitmotiven, die wie musikalische Elemente den Text durchziehen.
Das Hauptthema, das dem Stück zugrunde liegt, ist die Erinnerung und wie die verschiedenen Figuren mit ihr umgehen. Kettering untersucht die gleichen Motive (Vergessen; Whiteout; reale und virtuelle Welt; Kommunikation; Utopie) unter den jeweils anderen Voraussetzungen 1989 und 2003. Die beiden Generationen gehen unterschiedlich mit ihren Erinnerungen um, auch sonst hat sich vieles verändert, das Internet ist allgegenwärtig geworden – aber mit jemand eine Beziehung einzugehen und die Partnerin oder den Partner als das, was sie oder er ist hinzunehmen, ist nach wie vor schwer.
Kettering sagt selbst über ihren Text, dass sie ein Stück über die Unsterblichkeit als Utopie schreiben wollte.
Sollen wir es hinnehmen, dass Erinnerungen nach und nach verschwinden? Ist es möglich, ein Menschenleben aufzuzeichnen und sämtliche Erinnerungen lückenlos abzuspeichern? Ist völlige Transparenz erreichbar – und vor allem wünschenswert? Ein berührender Theatertext, der an die Bühne interessante Aufgaben stellt.
Katharina Stalder
Ein Gedanke zu “PORTRÄT: Christina Kettering”