Ivor Martinić erzählt in „DRAMA ÜBER MIRJANA UND DIE MENSCHEN UM SIE HERUM“ in tragikomischen, manchmal auch todtraurigen Szenen vom Leben durchschnittlicher Menschen in einer osteuropäischen Stadt, von der Tristesse ihres Alltags und ihrem Bestreben, der eigenen Existenz allen Umständen zum Trotz einen Sinn zu verleihen.
Ein Gespräch mit dem Autor und der Übersetzerin Blažena Radas.

Im Zentrum des Stücks steht Mirjana, eine Frau Anfang vierzig. Mirjana ist Mutter, Tochter, Ex-Frau, Kollegin, Geliebte. Der Fokus liegt auf ihr, aber wir erleben durch sie auch eine Vielzahl anderer weiblicher Charaktere „um sie herum“.
In Deutschland diskutieren wir immer wieder, dass es selbst in zeitgenössischen Stücken oft mehr Rollen für Männer gibt als für Frauen. Nicht so in „Drama über Mirjana und die Menschen um sie herum“. War es Ihr spezifisches Anliegen, ein Stück über oder gar für Frauen zu schreiben?
Ivor Martinić: Wir leben in einer patriarchalen Gesellschaft. In Europa spiegelt sich das in der unterschiedlichen Bezahlung, in den Arbeitsplatzbedingungen, in den Rollenzuweisungen in der Familie und in den Medien wider… Die Situation der Frauen in der heutigen Gesellschaft ist nicht einfach (und von der Vergangenheit wollen wir gar nicht erst sprechen). Frauen haben im Privat- und Berufsleben durchschnittlich mehr sozial und politisch bedingte Schwierigkeiten zu meistern. Deswegen verfügen Frauen oft auch über mehr Kompetenz als Männer, wenn es um Situationsmanagement und Problemlösungen geht.
Für mich ist es viel interessanter, über Frauen zu schreiben, da ich Frauen als Kämpferinnen erlebe, die sich fast alle ihre Entscheidungen erstreiten müssen. Im Hinblick auf den dramatischen Konflikt bieten weibliche Rollen mehr dramatische Möglichkeiten. Stücke stellen für mich immer eine Reaktion auf Probleme dar, die durch Veränderungen hervorgerufen werden. Ein Stück mit einer großen Anzahl an weiblichen Rollen zu schreiben ist für mich daher kein politisches oder künstlerisches Statement, sondern spiegelt nur meine politischen und künstlerischen Interessen wider.
Persönlich würde ich sehr gerne in einer Gesellschaft leben, in der die Unterscheidung zwischen männlichen und weiblichen Rollen obsolet ist, männliche und weibliche SchauspielerInnen alle Rollen spielen können und das keine Frage des Geschlechts ist. Das wäre für mich ein Zeichen, dass wir in einer wirklich gleichberechtigten Welt leben.
„Drama über Mirjana und die Menschen um sie herum“ wurde in Belgrad, Zagreb and Ljubljana inszeniert. Können Sie uns etwas von der Uraufführung erzählen? Wie eng arbeiten Sie mit einem Regisseur zusammen, wenn Sie ein Stück entwickeln? Gehen Sie regelmässig auf Proben? Und was waren die Unterschiede zwischen den einzelnen Produktionen?
Ivor Martinić: Das Stück wurde 2010 am „Yugoslav Drama Theatre“ uraufgeführt und ist dort – acht Jahre später – noch immer im Repertoire, wofür ich sehr dankbar bin. Ich habe die Produktion das letzte Mal vor einem Jahr gesehen und war sehr überrascht, wie mutig es war, dieses Stück so aufzuführen. Mutig aufgrund der Art und Weise, wie die Schauspieler die Rollen mit dramatischen Mitteln interpretieren, basierend auf dem „Alltags“-Thema des Stücks und einer fast an Beckett erinnernden Spielweise. Die Zuschauer mögen das Stück, auch wenn es ihnen nicht nur entgegenkommt. Es ist sehr langsam, es gibt kaum Figurenentwicklung. Das Stück erzählt ganz simple Alltagsmomente, es zeigt einen einzelnen Tag im Leben einer Frau. Ein Tag, der für ihr ganzes Leben stehen könnte. In dieser Inszenierung kommt es einem vor, als würde man durch ein Fenster das Leben einer realen Familie beobachten.
Im selben Jahr wurde das Stück mit großem Erfolg am Nationaltheater in Zagreb und am Stadttheater in Ljubljana aufgeführt. In Zagreb war der Zugriff der eines „Soul Musicals“, die Schauspieler sangen die Monologe. In Ljubljana zeichnete der berühmte slowenische Regisseur Dusan Jovanović für die Inszenierung verantwortlich. In dieser Produktion trugen die Schauspieler Masken, es stand die Frage im Mittelpunkt, wie Alltag auf der Bühne ästhetisch umgesetzt werden kann.
Ich gehe normalerweise nicht auf Proben, ich will, dass die Beteiligten sich dem Stoff völlig frei nähern. Ich möchte ihnen nicht all meine Entscheidungen erklären, und ich bin mir auch gar nicht sicher, ob ich auf alles eine Antwort hätte, und wenn ja, ob meine Antwort nicht vielleicht die falsche wäre.
Kommt es oft vor, dass ein Stück, das – beispielsweise – auf Kroatisch geschrieben wurde, auch in Serbien, Slowenien oder Bosnien-Herzegovina gezeigt wird? Gibt es in Ihren Augen eine spezifisch kroatische Dramatiker-Szene oder verschwimmen die verschiedenen Theaterszenen der Region miteinander?
Ivor Martinić: Die Sprache ist sehr ähnlich, fast identisch, daher ist es für andere Theatermacher leicht, ein Stück zu lesen, das beispielsweise auf Kroatisch geschrieben wurde. Ein Stück in jedem dieser Länder zu produzieren ist hingegen nicht so leicht. Dazu bräuchte man eine Menge Geld, über das die kulturelle Szene im Moment nicht verfügt. Die meisten Theater sind abhängig von staatlichen Subventionen, sie haben ein Repertoire im herkömmlichen Sinne. Wenn sie die richtigen Stücke auswählen, ist ihr Risiko relativ klein. Die Produktion eines zeitgenössischen Textes ist aber immer ein Risiko, auch wenn die Zuschauer Stücke mögen, die in einer Welt spielen, die ihnen vertraut ist.
Ich glaube schon, dass es eine spezifisch kroatische Dramatiker-Szene gibt. Es gibt hierzulande im Moment viele erfolgreiche Stückeschreiber: Tena Stivicic, Ivana Sajko, Vedrana Klepica, Goran Fercec… Aber wir haben keine einheitliche Ästhetik, daher es ist schwer, etwas Allgemeingültiges über unsere Texte zu sagen – abgesehen davon, dass wir alle aus demselben Land kommen.

Woher kam der Anstoß, Ivor Martinićs Stück zu übersetzen? War es die erste Kooperation oder haben Sie schon andere Texte desselben Autors übersetzt?
Blažena Radas: Ich habe vor einigen Jahren ein Interview mit Ivor Martinić gelesen und fand ihn sehr interessant, auf eine herrlich unaufgeregte Weise. Daraufhin kontaktierte ich ihn und bat ihn, mir das Stück „Drama über Mirjana und die Menschen um sie herum“ zu schicken. Da ich von dem Stück begeistert war, beschloss ich, es zu übersetzen. Auf eigenes Risiko sozusagen, weil die Finanzierung nicht gesichert war.
Wie eng arbeiten Sie beim Übersetzen normalerweise mit einem Autor zusammen?
Blažena Radas: Das hängt ganz vom Stück ab und auch davon, ob ich eine Aufführung gesehen habe. In diesem Fall hatte ich das Glück, das Stück im kroatischen Nationaltheater in Split zu sehen und so einen Eindruck zu bekommen. Das hat mir bei der Übersetzung sehr geholfen.
Im Grunde ist eine Aufführung fast wichtiger als der Austausch mit dem Autor, die Aufführung beantwortet ungeklärte Fragen am besten.
Wie schwierig ist es, von der Perspektive des Übersetzers aus, Übersetzungen osteuropäischer Dramatik an die Theater im deutschsprachigen Raum zu vermitteln?
Gibt es Themen oder ästhetische Formen, die Sie als spezifisch kroatisch oder serbisch beschreiben würden – Themen und ästhetische Formen, die so in der zeitgenössischen deutschsprachigen Dramatik vielleicht nicht zu finden sind?
Blažena Radas: Für diese Frage bin ich sehr dankbar! Es ist beides, schwierig und einfach, ein osteuropäisches Stück an deutsche Theater zu vermitteln. Einfach ist es, wenn die Region, aus welchen Gründen auch immer, im Fokus der westeuropäischen Aufmerksamkeit steht. Das waren in der letzten Zeit der Krieg und die Transition von einem sozialistischen in einen demokratischen kapitalistischen Staat. Allerdings habe ich auch oft die Erfahrung gemacht, dass man osteuropäische Stücke nur in diesem Kontext wahrnimmt, als hätten sie nur dann eine Chance, wenn sie bestimmte Klischees bedienten, wenn sie das „Andere“ reflektieren oder das „Balkanische“.
Darum bin ich EURODRAM sehr dankbar, weil mit dem „Drama um Mirjana und die Menschen um sie herum“ ein Stück ausgewählt wurde, das mutig genug ist, von kleinen und gleichzeitig universellen Themen zu sprechen.
Spezifisch kroatische oder serbische Themen sind meiner Ansicht nach die noch immer andauernden Transitionsprozesse und das Vakuum, das sie zurücklassen. In beiden Ländern ist das Verhältnis zur Vergangenheit nicht aufgearbeitet, und die Frage nach der Identität wird auf Nationalität und Religion reduziert. Beide Gesellschaften erfahren einen Wertewandel: Der dominante Diskurs stellt die nationale und religiöse Zugehörigkeit über alles andere, Arbeit und Bildung werden beispielsweise abgewertet, sie spielen für das Selbstverständnis kaum eine Rolle. Diese Themen sind spezifisch für Osteuropa, aber wenn man sie weiterdenkt, sind sie auch universell.
Das Gespräch führte Ulrike Syha
BIOGRAPHIE Ivor Martinić:
Der preisgekrönte kroatische Autor Ivor Martinić hat an der „Academy of Dramatic Art “ in Zagreb Dramaturgie studiert. Sein Stück „The title of the drama about Ante is Written here“ wurde vom Stadttheater in Split, vom Blue Elephant Theatre in London und vom Théâtre des Chardons in Brüssel aufgeführt. Sein Stück „Drama über Mirjana und die Menschen um sie herum“ wurde am Yugoslav Drama Theatre (Belgrad), am Nationaltheater Zagreb und am Stadttheater in Ljubljana inszeniert.
Sein neuestes Stück „My son only walks a little slower“ wurde am Zagreb Youth Theatre uraufgeführt. Die Inszenierung hat über zwanzig Preise gewonnen, darunter den Golden Laurel Award für das beste Stück beim MESS Festival in Sarajevo und den Preis der „Croatian Associaton of Dramatic artists“, ebenfalls für das beste Stück. Das Stück wurde außerdem erfolgreich in Buenos Aires, Asuncion, Montevideo, Mexico, Madrid und Belgrad gezeigt. Auch die Inszenierung in Buenos Aires wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Preis der argentinischen Kritiker für die beste freie Produktion.
Martinićs Stücke wurden in 15 Sprachen übersetzt.
BIOGRAPHIE Blažena Radas:
Blažena Radas (*1967 in Wien) hat Germanistik und Slavistik an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg studiert. Sie ist freischaffende Literaturübersetzerin und lehrte Filmgeschichte und Filmanalyse zunächst an der London Metropolitan University und seit 2011 an der Kunstakademie in Split. Aus dem Bosnischen, Kroatischen und Serbischen hat sie zahlreiche zeitgenössische Romane und Theaterstücke ins Deutsche übersetzt, unter anderem von Olja Savičević Ivančević, Mate Matišić, Srećko Horvat, Robert Perišić. Sie lebt in Split und Heidelberg und engagiert sich für den kulturellen Austausch zwischen Deutschland und Kroatien.