Hinweise: Erstes Porträt von Christina Kettering (Stück "Antarktis", EURODRAM-Auswahl 2016) von Katharina Stalter; Kurztext Christina Kettering / Schwarze Schwäne (biobibliographische Angaben)
Christina Ketterin: Schwarze Schwäne

SCHWARZE SCHWÄNE
Text und Interviewfragen von Wolfgang Barth, 20.06.2020
„Bei ihr ist alles wohltemperiert. Kein böser Gedanke trübt ihren Sinn, nichts Hintergründiges verwirrt ihren Blick. […] Für sie ist jeder Tag nicht mehr und nicht weniger als das: ein neuer Tag. Die Sonne geht auf, die Sonne geht unter […]. Sie denkt nicht darüber nach, dass die Sonne schon auf und unter ging, als ihre Art noch nicht mal existierte. Sie fragt sich nicht, wie oft sie selbst den Sonnenuntergang noch sehen wird, sie fühlt sich nicht klein im Universum.
Sie wacht nicht schweißgebadet auf und fragt sich, was aus ihrem Leben geworden ist, sie fragt nicht, ob da noch was kommt und warum da überhaupt was kommen soll. Sie fragt sich nicht, wie sie es angesichts des Elends in der Welt mit ihrem Gewissen vereinbaren kann, nicht zufrieden zu sein […]. [Sie kann auch nicht] am nächsten Morgen in Anbetracht der aufgehenden Sonne den Gedanken nicht loswerden […], dass dieses ständige Auf- und Untergehen vollkommen sinnlos ist, seit Millionen Jahren, für jeden und alles an jedem Ort der Welt; auf und unter, was soll denn das.“ (S. 37)
Die Rede ist von einem Roboter, Rosie, und die Gedanken über sie macht sich ein Mensch, die JÜNGERE der beiden Schwestern in Christina Ketterings Stück. Die ÄLTERE hat ihr Rosie geschenkt, damit diese die demente Mutter pflegt, die die JÜNGERE in ihr Haus aufgenommen hat. Bevor der Roboter kam, war die JÜNGERE, die sich neben der Mutter auch noch um ihre Kinder und (am Anfang) um den Mann kümmern und den Job zum Geldverdienen außerhalb des eigentlichen Berufs (Soziologin) ausüben muss, am Ende ihrer Kräfte.
In den drei Teilen des Stückes Vorher (Szenen 1 bis 13), Jetzt (Szenen 1 bis 17) und Danach (eine Szene) lernen wir die ÄLTERE und die JÜNGERE (die beiden Personen des Stückes) und über diese die Mutter und Rosie kennen.
Weil sie kaum Kontakte pflegte, wird die demente Mutter von den Töchtern erst nach Wochen verwahrlost vor ihrem Fernseher entdeckt. Im Haus der JÜNGEREN blüht sie nicht auf, verweigert jeden Kontakt und lacht erst wieder, als Rosie die Pflege übernommen hat und diese getreu dem Ziel, „stets die bestmögliche Situation für Mutter zu schaffen“ (S. 30), zu Ende führt.
Ebendieses Prinzip aber wird im Smart Home zur Hölle für die JÜNGERE, die sich nach anfänglicher Erleichterung und Lebensfreude („Ich bin wie neugeboren“, S. 34) „im eigenen Haus nur noch [als] ein Teil des Systems [empfindet], das dafür da ist, dass es ihr gut geht.“ (S. 44) Immer wieder vergleicht sie sich mit dem Roboter, der schöner, effektiver, gelassener und erfolgreicher ist. Die Mutter, die die Tochter keines Blickes mehr würdigte, kreischt vor Vergnügen, wenn der Roboter sie im Rollstuhl herumschwenkt. Rosie wackelt mit perfekten Proportionen durchs Haus (S. 43) und schwingt elegant die Hüften, wenn sie singend den Fußboden wischt (S. 40/45). Zu ihr würde sogar der Ehemann zurückkommen (S. 54). Aber trotz all dieser Qualitäten („aber trotzdem, aber trotzdem, aber trotzdem“, S. 46) hält die JÜNGERE am Menschsein mit all seinen Schwächen fest.
Die ÄLTERE musste sich nach dem Willen der Eltern stets um die JÜNGERE kümmern. Selbst ihr sehnlichstes Ziel, die Erforschung der Vulkane, hat sie deshalb aufgegeben. Davon hat sie nun genug. Sie wendet sich pragmatisch dem Leben zu. Im Supermarkt bevorzugt sie die automatische Kasse der Kassiererin, weil selbst diese sich keine Fragen über das am Warenkorb abzulesende Singleleben stellen soll. Die ÄLTERE besorgt den Roboter Rosie. Im Verlauf des Stückes scheint sie sich in ihn zu verlieben.
In diesem Stück übersetzt sich Erfahrung und Weltsicht in Handlung. Es fasst universale Kenntnis in Szenen, in denen kein Wort zu viel ist. Zuschauer*innen und Leser*innen erleben grundlegende Situationen in konkreter Handlung, u. a.:
Verzweiflung, Wut und Brutalität, wenn die JÜNGERE die Mutter, die nicht essen will, mit Suppe füttert („ups das war wohl ein bisschen heftig“, S.24), neues Glück und Lebensfreude, wenn sie aufzählt, was sie nach Einstellung des Roboters alles tun wird, z. B. den netten Typen aus der Personalabteilung anrufen oder es aber in völliger Freiheit auch morgen oder übermorgen tun (S. 34), die Existenz am Rande des Burnout, wenn wir erfahren, was zwischen fünf Uhr morgens (Wecken und Waschen der Mutter) und dem Frühstück für die Kinder (der Mann hat wieder nicht zu Hause übernachtet) geschieht (S. 28), einen Moment reinen Glücks („Ich würde […] sagen, dass […] der Himmel aufbrach und ein Sonnenstrahl auf die überflutete Straße fiel“, S. 42), wenn in einer fantastischen Szene während eines Sommerhochwassers vor dem Haus ein junger Mann vorbeischwimmt und die JÜNGERE und er sich einander zuwinken.
Glücklich und verwegen zu leben, aus dem Vollen zu schöpfen, ist beider Schwestern Sehnsucht. Die ÄLTERE kommt ihr zuzeiten nach: „Dass ich mich verlieren kann in dem Beat, ein Rausch, mit und ohne Drogen. […] Irgendwann hinaustreten, ins Sonnenlicht blinzeln und nicht wissen, ob ein oder zwei Nächte vergangen sind.“ (S. 17) Die JÜNGERE träumt davon: „[…] ich stell mir vor, wie das wäre: totale Hemmungslosigkeit. Maßloses Fressen. […] Maßloses Trinken, maßloses Fluchen, maßloses Ficken, maßlos gleichgültig sein.“ (S. 18) Aber stattdessen folgt sie der empfundenen Verpflichtung und pflegt bis zur Selbstaufgabe die senile Mutter. Unmittelbar stellt sich der Gedanke an Maria und Martha des neuen Testaments ein und damit die Frage: Wie sind die Lebensweisen moralisch zu bewerten?
Wenn Christina Ketterin die Fragestellung hochaktuell erweitert und über die Schwestern die Moral an den Roboter Rosie delegiert, wird es spannend. Von Menschen programmiert, handelt die Maschine nämlich nach menschlichen Prinzipien: „Menschliche Entscheidungen sind im Grunde auch nur Algorithmen. Die formale Logik folgt den gleichen Prinzipien wie ein Computer. Die philosophische Tradition stellt uns ein mechanisches Verfahren zur Entscheidung moralischer Probleme bereit, das jeden, der es anwendet, zwangsläufig zu den richtigen Ergebnissen führt.“ (S. 25) Wird Rosie richtig, wird sie moralisch handeln?
Wir rücken zu einer der Kernfragen des Stückes vor. „Ein schwarzer Schwan ist ein sehr unwahrscheinliches Ereignis. In der Antike wird eine treue Frau mit einem schwarzen Schwan verglichen. In der Antike dachten die Menschen, dass es schwarze Schwäne nicht gibt. […] Eine moralische Maschine wird als Schwarzer Schwan bezeichnet.“ (S. 53) Rosie ist offensichtlich ein solcher Schwarzer Schwan. Sie ist korrekt programmiert und lernt: „Sie stellt sich Fragen, die sie sich vorher nicht gestellt hat. Ob das alles gewesen sein soll. Warum sie ständig kochen und putzen muss. Was Liebe ist.“ (S. 45). Führt Rosis „Denken“ und „moralisches Handeln“ zu den richtigen Ergebnissen?
Im Verhör zur Ermittlung der Schuld (Abschnitt „Danach“) nach dem Tod der Mutter ist die ÄLTERE nahe daran, die Frage zu bejahen: „Sie war darauf programmiert, die Entscheidungen zu treffen, die für Mutter die meisten positiven Gefühle hervorriefen. […] Und nehmen wir einmal an, sie hat aus allen Informationen, die sie ihr gegeben hat, berechnet, dass es für Mutter am besten wäre, nicht mehr zu leben.“ Die These hat aber keinen Bestand. Sie wird weder bestätigt noch verworfen, sondern nach den Begriffen der Kommunikationstheorie (in diesem Fall durch Zerreden) „entwertet“. Es handelt sich ja aber nicht um eine philosophische Diskussion, nicht um einen logischen Diskurs, sondern um ein Theaterstück, das von der Handlung getragen wird. An dessen Ende steht vor uns die fassungslose JÜNGERE: „Rosie saß ganz ruhig neben meiner Mutter auf der Bettkante und zeigte nicht die geringste Reue. Das muss man sich mal vorstellen. Hat gerade einen Menschen getötet und zeigt einfach keine Reue.“
Wer erschrocken feststellt, dass wir bei der Betrachtung von Geschichte und aktuellster Gegenwart in gleicher Weise vor identischem menschlichen Verhalten stehen, wird die Einsicht teilen, dass sich Tragweite und Aussage von Christina Ketterings Stück nicht auf die Problematik künstlicher Intelligenz reduzieren lassen.
INTERVIEW
Liebe Christina, gab es für dich persönliche Anlässe, „Schwarze Schwäne“ zu schreiben?
Es gab keinen direkten persönlichen Anlass. Ich wollte schon lange etwas über Künstliche Intelligenz schreiben und habe darüber nachgedacht, welche Auswirkungen das auf unser Leben in verschiedenen Bereichen haben könnte. Mich interessiert dabei vor allem die Ambivalenz zwischen Nutzen und Gefahr, die Frage nach Freiheit und Verantwortung und der Einfluss auf unseren Umgang miteinander. Dafür schien mir diese familiäre Pflegesituation gut geeignet, weil wir ihr – wenn sie eintritt – so ausgeliefert sind, als Kinder wie als Eltern. Potentiell kann es alle betreffen, aber als Gesellschaft, nicht bloß als Einzelne, sind wir total überfordert damit. Die Situation in meinem Stück ist ja nur teilweise Science-Fiction – Roboter werden bereits in der Pflege eingesetzt und es wird ausführlich darüber diskutiert, welche Implikationen das hat. Mich interessiert in dem Zusammenhang besonders der ethische Aspekt: Wer trägt die Verantwortung, wenn ein Roboter einen Menschen verletzt oder tötet? Unser Konzept von Schuld und Verantwortung setzt Bewusstsein voraus, aber es ist gar nicht so leicht zu beantworten, was Bewusstsein überhaupt ist. In „Schwarze Schwäne“ geht es auch darum, dass nicht ganz klar ist, ob „Rosie“ menschliches Verhalten abschaut und kopiert oder ob sie „Bewusstsein“ erlangt hat – und ab wann wäre ein Lernen durch Nachmachen „echtes“, eigenständiges Bewusstsein? Die Schwestern haben sehr unterschiedliche Blickwinkel darauf, die auch mit ihren je eigenen Hoffnungen und Selbstbildern zu tun haben. Selbstlernende künstliche Intelligenz ist eine Herausforderung für unser Verständnis von Recht, Schuld und unserem menschlichen Selbstbild und das finde ich extrem spannend.
Warum greifst du bei der Wahl des Titels auf die Antike zurück?
Der Titel geht ursprünglich auf die Antike zurück, ich nehme aber Bezug auf seine Verwendung in der Gegenwart. Ich habe in einem Buch über Maschinenethik von Oliver Bendel darüber gelesen, dort wurde er in Bezug auf moralische Maschinen verwendet. Diese wurden lange Zeit als höchst unwahrscheinlich angesehen, mittlerweile aber ernsthaft diskutiert. Der Begriff wurde populär durch Nassim Nicholas Talebs Buch gleichen Namens, aber darauf habe ich mich nicht bezogen. Dort geht es aber auch um unwahrscheinliche Ereignisse und deren Auswirkung auf uns bzw. die Gesellschaft.
„Schwarze Schwäne“ besteht, abgesehen von einem kurzen Dialogzitat ÄLTERE/Rosie im zweiten Teil, nur aus Dialogen und Monologen der Schwestern ÄLTERE und JÜNGERE. Außer „Pause“ gibt es keine Regieanweisungen. Alles über die Mutter und den Roboter Rosie, die gesamte Handlung und weiteres erfahren wir aus der Perspektive der Schwestern. Warum hast du diese Form gewählt? Steckt dahinter ein Prinzip deines Schreibens?
Beide Schwestern haben, abhängig von ihrer sozialen Situation, unterschiedliche Perspektiven auf das Geschehen. Die sollen erzählt werden und ein Spannungsfeld aufmachen, ohne eine Perspektive als die „richtigere“ darzustellen. Mich interessiert das Ambivalente, und das ist manchmal nicht aufzulösen oder je nach Blickwinkel anders. Damit meine ich nicht, dass alles gleichwertig ist, aber oft ist es uneindeutig und ich möchte es den Zuschauern überlassen, sich damit auseinanderzusetzen. Generell versuche ich in meinen Stücken, verschiedene Perspektiven auf ein Thema zu erzählen. Insofern kann man schon sagen, dass das ein Prinzip meines Schreibens ist. Der Mangel an Regieanweisungen unterstützt das, da wir so in der radikal subjektiven Perspektive der jeweiligen Person sind, nur das von ihr Gesagte haben und als Leser oder Regisseurin den Kontext selbst erschaffen können.
Gab es bei der Arbeit besondere Herausforderungen? Zweifel oder Sorgen? Aspekte, die dir besondere Freude bereitet haben? Liegt dir eine Person oder Situation besonders am Herzen?
Ich wusste sehr früh, was ich thematisch erzählen möchte und welche Fragestellungen mich interessieren, habe dann aber sehr lange nach einer Form dafür gesucht. Weil es ein so vielschichtiges Thema ist, hatte ich anfangs sehr viele Stränge. Es gab sehr viel mehr Personal, Situationen und Themen, aber irgendwann kam ich damit nicht weiter. Ich musste das dann auf diese sehr konkrete und personell kleine Situation herunterbrechen, um das für mich zu lösen. Es ist ein sehr komplexes Thema, zu dem es viel zu sagen gäbe. Ursprünglich hatte mich auch der Arbeits-Aspekt sehr interessiert. Wie verändert KI unseren Arbeitsbegriff – zischen der sehr realen Angst vor Jobverlust und dem utopischen Gedanken einer von (Lohn-)Arbeit befreiten Gesellschaft. Da habe ich einfach sehr lange rumüberlegt und ausprobiert. Es hat aber auch Spaß gemacht, sich in diesen Bereich ein wenig einzulesen, der für mich völlig fremd war. Damit verbunden war dann aber auch die Sorge, dem Thema nicht gerecht zu werden.
Bei der großen Zahl der eingereichten Stücke konnten wir wieder einmal feststellen, wie vielseitig in Form und Inhalt die gegenwärtige deutschsprachige Theaterproduktion ist. Kannst du dich in diesem Umfeld positionieren? Hast du Vorlieben und Vorbilder? Gibt es formal und inhaltlich Tendenzen, die für dich weniger in Frage kommen?
Ich gehe vom Individuum aus, mich interessiert der Einzelne und seine vielfältigen Verstrickungen, sein Verhältnis zur Welt und zur Gesellschaft. Daher sind für mich Figuren wichtig. Die können direkt auftreten oder vermittelt erzählt werden, aber interessant wird es für mich erst, wenn sich ein konkretes Individuum zur Welt verhalten muss. Generell mag ich Stücke, die eher Fragen aufwerfen, als Antworten zu geben – ich bekomme als Zuschauerin ungern vorgegeben, welche Schlüsse ich ziehen soll. Und ich mag Stücke, die sprachlich und atmosphärisch eine eigene Welt bauen.
Du hast schon Erfahrungen mit Eurodram gemacht. Kannst du dem deutschsprachigen Komitee Ratschläge und Hinweise für die Arbeit geben?
Eurodram ist wirklich eine großartige Initiative. Ich weiß ja auch, dass ihr alle ehrenamtlich arbeitet und habe großen Respekt vor dem, was ihr da tut.
Ratschläge würde ich euch nicht geben können, aber wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir wünschen, dass der internationale Austausch stärker stattfindet. Dass also zum Beispiel die übersetzten Texte nicht nur im Land der Muttersprache vorgestellt werden, sondern auch in den Ländern der Übersetzungssprachen. Mir ist klar, dass dem wahrscheinlich finanzielle Hürden entgegenstehen. Aber das wäre zumindest ein Hinweis.
HINWEIS EURODRAM
Zur Übersetzung von „Schwarze Schwäne“ in folgende Sprachen haben sich Übersetzer*innen bereit erklärt:
Englisch (Pauline Wick), Französisch (Charlotte Bomy), Kroatisch (Blazena Radas), Russisch (Galina Franzen Klimowa), Rumänisch (Elise Wilk)
Mit ihrem Hinweis im letzten Absatz des Interviews hat Christina sehr recht. Sie spricht dabei Wunsch und Ziel des deutschsprachigen und der anderen Komitees an. Vielleicht können die Übersetzer*innen durch ihre Kontakte und die Komitees der entsprechenden Sprachen dazu beitragen. Es wird auch darauf ankommen, ob wir Förderungen für die Übersetzungen und ihren weiteren Weg erreichen können.
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