Ein Gespräch mit Sean Keller über Blut und Nebel und Feierabend und über all das, was sonst noch alles fehlt – eben über „Und“
von Carsten Brandau

Ich kenne Sean. Ich kenne auch seinen Text „Und“ schon seit einiger Zeit. Hätte ich in diesem Jahr in der Jury von EURODRAM gesessen, hätte ich mich bestimmt für „Und“ stark gemacht. Aber ich saß nicht in der Jury. Stattdessen versuche ich, heute in die Rolle eines Interviewers zu schlüpfen, und treffe Sean zu einem Gespräch. Es ist ein sonnig warmer Sommerabend in Hamburg. Wir sind in einer Kneipe verabredet, die einen ruhigen Hinterhof hat. Aber die Kneipe hat geschlossen. Corona hat ihr ein Bein gestellt. An der Tür hängt ein Zettel: „Erst mal amtlich geschlossen.“ Wir müssen uns also ein anderes Plätzchen suchen und landen in einem kleinen (und deshalb vollen) Biergarten auf einer Verkehrsinsel. Rechts und links rasen lärmend Autos durchs enge Ottensen. Wummernde Bässe aus offenen Fenstern, Auspuff-Lärm auf Knopfdruck. Ich hoffe, dass ich am Ende nicht nur Motorengeräusche auf meinem Aufnahmegerät habe. Wir bestellen Bier, und ich lege mit der Mutter aller Fragen los.
Carsten:
Wie gehts dir, Sean?
Sean:
Heuschnupfen. Ist nicht Corona.
Carsten:
Apropos Corona. Wie bist du über den Shutdown gekommen?
Sean:
Gut. Überraschenderweise. Ich war zumindest beschäftigt. Alles Negative kommt erst jetzt.
Carsten:
Wie meinst du das?
Sean:
Dieses ganze Abstandsding. Medizinisch voll nachvollziehbar. Irgendwie pleast es mich auch. Weil ich sowieso nicht so unbedingt auf Menschen und Nähe stehe. Und weil ich es deshalb auf perverse Weise auch irgendwie geil finde, dass man jetzt mit so einem dezenten Blick alle darauf hinweisen kann, die eigene Individualdistanz zu achten. Und gleichzeitig macht es mir aber auch mega Angst. Weil meine soziophobe Art nicht gerade noch bestärkt werden sollte. Wird sie aber gerade permanent. Aber verglichen mit den Problemen, die andere Menschen während des Shutdowns hatten, kann ich mich nicht beschweren. Also von wegen Existenzängste, Jobverlust, Firmenaufgabe und so. Da kann ich mich wirklich gar nicht beschweren.
Carsten:
Von wegen Jobverlust. Sag mal, Sean, was bist du eigentlich von Beruf?
Sean:
Sag du es mir!
Carsten:
Na ja, ich kenne dich als Autor. Aber du machst ja auch ganz viele andere Dinge. Wo würdest du dich beruflich denn zumindest verorten? Am Theater?
Sean:
Ja, auch.
Carsten:
Und welche Berufsbezeichnung würde dir am meisten entsprechen?
Sean:
Also, das Finanzamt führt mich als Bildenden Künstler. In meiner E-Mail-Signatur steht Bühne, Video, Text.
Sean erzählt, dass er ursprünglich mal angefangen hat, Malerei in Nürnberg zu studieren. Er erzählt von seinem ersten Dramaturgie-Praktikum an einer kleinen Landesbühne bei ihm ums Eck, an der Landesbühne Maßbach. Er erzählt von diversen Regie- und Bühnenbild-Assistenzen, die darauf folgten, und davon, dass er dann das Malerei-Studium geschmissen hat. Dann der Umzug nach Hamburg, Aufnahme eines Bühnenbild-Studiums, Video-Schnitt, eigene Bühnenbilder, Fernsehen, Stückentwicklungen, Online-Theater und so weiter.
Carsten:
Und wann kam das Schreiben dazu? Der Text?
Sean:
Der Text war eigentlich schon vorher da. Auf verschiedenste Art und Weise natürlich.
Verliebte Pennäler-Prosa. Noch schlimmer die Gedichte. Aber eben immer Text, sagt Sean. Wie zum Beispiel auch bei der Aufnahmeprüfung für das Malerei-Studium. Okay, ich verstehe. Ich muss konkreter fragen.
Carsten:
Und „Und“ war dann dein erster Theatertext?
Sean:
Ja. Das war der erste Theatertext, den ich angefangen habe. Aber es war nicht der erste, der fertig war.
Carsten:
An „Und“ hast du also länger geschrieben. Und wie kann man sich diesen Schreibprozess vorstellen?
Sean:
Na ja, ich hab ganz viele Notizbücher. Und in die kritzel ich alle meine Gedanken rein. Da sammelt sich dann ganz viel zusammen. Und irgendwann mache ich dann auf dem Rechner einen Ordner für das Projekt auf, an dem ich gerade arbeite. Und dann irgendwann gebe ich dem Ganzen eine Form. Irgendwann gibt es dann den einen zündenden Gedanken, der all die Dokumente zu einem Text formt.
Carsten:
Wenn man „Und“ liest, hat man aber ja den Eindruck, dass der Text wie in einem Rausch runtergeschrieben ist. Dass das Ganze ein einziger Textfluss ist. Weil es eben so extrem homogen und treibend wirkt. Es wirkt so, als hättest du geschrieben, ohne abzusetzen.
Sean:
Nein, gar nicht.
Carsten:
Zu welchem Zeitpunkt hast du denn eine Vorstellung davon, wo so ein Text hingehen soll?
Sean:
Die habe ich tatsächlich mehrmals. So eine Vorstellung. Aber meistens stimmt sie nicht. Es sind halt einfach extrem viele Notizen, die zusammenkommen. Und dann kommt irgendwann der Überarbeitungsprozess. Und umso mehr ich verwerfe, desto mehr bekomme ich eine Vorstellung von dem Text. Also, ich schreibe nicht an einem Stück. Ich sammel über Wochen und Monate. Aber den finalen Text, den schreibe ich dann tatsächlich in einem runter. So in zwei, drei Tagen. Dann höre ich dazu einen Soundtrack, der in Endlosschleife läuft. Was das bei „Und“ war, weiß ich gar nicht mehr. Aber ich brauche zum Schreiben so einen bestimmten Rhythmus, so einen bestimmten Beat. Stundenlang das Gleiche.
Carsten:
Spielen Themen denn für dich beim Schreiben eine Rolle? Ich meine, bei „Und“ geht es ja zum Beispiel um das Thema Lebenslauf. Im weitesten Sinne, meine ich.
Sean:
Ja. Beziehungsweise nein. Also, wie soll ich das sagen. Das, was den Text am Ende zusammenhält, ist was anderes als das, womit ich anfange zu schreiben. „Und“ hat zum Beispiel mit drei oder vier Sätzen angefangen, die jetzt im zweiten Drittel stehen. Und in diesen Sätzen geht es um Depression. Die hatten aber auch kein „Und“ am Anfang. Es gibt so Topoi, die mich dauerinteressieren. Eins ist zum Beispiel, dass ich morgens um vier unter der Sternbrücke nach Hause laufe, und über mir fährt ein ICE lang. Und ich sehe die ganzen Gesichter und ich denk mir so, da fahren gerade einfach geballt zweihundert Biografien über mich rüber. Das ist dann so ein Rauschen.
Carsten:
Würdest du sagen, dass die Musik bei deinem Schreiben eine wesentliche Rolle spielt?
Sean:
Ich hab zwar acht Jahre lang Klavier gespielt, aber ich habe von Musik eigentlich gar keine Ahnung. Musikalität und Rhythmus spielen bei mir bestimmt eine Rolle, ja. Musiktheorie aber in keinster Weise. Das ist vielmehr ein sehr subjektiv empfundener Satz- oder Sprachrhythmus.
Carsten:
Und welche Rolle spielt die Sprache in deinen Texten? Bei „Und“ fällt mir zum Beispiel auf, dass deine Sprache auf eine abstrakte Künstlichkeit verzichtet. Dass sie also keineswegs prätentiös daherkommt, sondern sich vielmehr am alltäglichen Sprachausdruck orientiert.
Sean:
Na ja. Ich finde eigentlich schon, dass meine Sprache eine extreme Künstlichkeit hat. Zumindest versuche ich, die reinzubringen. Gleichzeitig bin ich immer auf der Suche nach so einer komischen Art von Oralität. Ich versuche so einen Duktus zu finden, der eine Natürlichkeit hat. Damit ein Körper nicht mit der Sprache kämpfen muss.
Carsten:
Wenn du „Und“ vorliest – und ich habe dich schon ein paar Mal daraus lesen hören –, wenn du also „Und“ öffentlich liest, dann tust du das ja mit einem extremen Speed. So dass man rein technisch mit Ohren und Kopf kaum noch folgen kann und andauernd aus dem Text rausgeschmissen wird. Als Hörer finde ich mich dann in einer Art sprachlichen Druckerzeugungsmaschine wieder. Was ja auch wieder für Musikalität und gegen inhaltliche Bedeutung sprechen würde. Aber da verstehe ich dich falsch?
Sean:
Das soll sich ja nicht gegenseitig ausschließen. Mein Lesetempo ist einfach extrem hoch.
Wie auch Seans Sprechtempo überhaupt extrem hoch ist. Das muss ich hier mal kurz erwähnen. Denn beim Gedanken an die anstehende Transkription dieses Gesprächs komme ich ins Schwitzen. Entschuldige, Sean, ich habe dich unterbrochen. Du hast gerade extrem schnell über dein extrem hohes Lesetempo gesprochen.
Ja. Aber wenn das Tempo dazu führt, dass man nicht mehr folgen kann, dann ist das Lesetempo meiner Ansicht nach tatsächlich falsch. Deshalb gehe ich ja auch nicht auf Poetry-Slams und baller Menschen mit meinen Texten zu, sondern hoffe, dass Menschen, die das gelernt haben und können, diese Texte sprechen. Deshalb schreibe ich für das Theater.
Carsten:
Denkst du die Sprechenden beim Schreiben mit? Womit wir dann bei der Frage wären, ob du beim Schreiben überhaupt ein bestimmtes Bild vor dir hast?
Sean:
Ja. Ein Bild, das ich immer vor mir habe, sind Nebel.
Carsten:
Nebel?
Sean:
Vor meinem inneren Auge gibt es immer einen dunklen Raum –
Plötzlich bricht Sean ab und sagt, dass das doch alles total bescheuert klingen würde. Wenn er sich vorstelle, dass er das, was er gerade erzählt, irgendwo lesen würde, dann würde er doch nur denken: „Diese Selbstbezogenheit! Ja, du schreibst so, ich schreib so, who cares?!“ – „I do“, sage ich. Ich gebe heute den Interviewer und hake noch einmal nach.
Carsten:
Du hast von Nebel gesprochen.
Sean:
Nebel. Ja. Also. Da ist ein schwarzer Raum. Obwohl ich das eigentlich gar nicht so sehr mag. Aber beim Schreiben habe ich immer einen hypothetischen Guckkasten vor mir. Der schwarz ist. Und da sind Nebel drinnen. Und diese Nebel haben Ausdehnungen. Mal kleiner, mal größer. Mal gehen die nach vorne, mal gehen die nach hinten. Die wabern so. Und sie haben Farben. Und das habe ich immer, wenn ich schreibe. Tatsächlich. Und ich weiß immer, dass aus diesem Nebel dieser Satz kommt, und aus jenem Nebel kommt jener Satz. Und wenn dieser Nebel diesen Satz sagt, dann drückt er jenen Nebel zurück. Ich arbeite nebenbei auch auf der Bühne sehr gern mit Nebel.
Carsten:
Aber du arbeitest ja auch mit Menschen.
Sean:
Als Bühnenbildner nicht.
Carsten:
Aber als Autor.
Sean:
Und das ist für mich schwierig, wenn ich weiß, wer was spricht.
Sean erzählt von seinem letzten Projekt, bei dem er tatsächlich für eine ganz konkrete Person Sprechtext schreiben musste. Das Projekt hieß „HYPHE. Don’t judge“ und war ein Online-Spiel bzw. Online-Theater – oder wie er es zusammen mit seinen Kolleg_innen vom onlinetheater.live genannt hat: „Ein Online-Multiplayer-Live-Game“. Seit mittlerweile vier Jahren beschäftigt sich Sean in diesem Kollektiv mit der Verbindung von digitaler Lebensrealität und Gegenwartstheater. Die Vorstellungen von „HYPHE“ konnten im Mai dieses Jahres im Netz besucht werden, also mitten im Corona-Shutdown – und so fangen wir zwangsläufig an, über das inzwischen schon sprichwörtlich gewordene „Corona-Theater“ zu sprechen, über Theater im Netz überhaupt, über Zoom und über das langsame Internet in Deutschland. Ich frage mich, warum die subventionierten Häuser in dieser Zeit nicht auf die Expertise diverser freier Gruppen – wie z.B. eben onlinetheater.live – zurückgreifen, und Sean findet das Wort „Expertise“ merkwürdig. Stattdessen erzählt er von Quellcodes und VR-Brillen, von Bindungen, die es hier eben gebe und dort eben nicht, und wieviel Vorlauf so ein Online-Theater brauche, wenn es nicht auf bereits vorhandenen Plattformen stattfinden soll und deshalb erst seine eigene Infrastruktur schaffen muss. Wir sprechen über die nicht vorhandene Flexibilität des deutschen Stadttheater-Betriebs, und als mir zwischenzeitlich der Akku meines Aufnahmegerätes verreckt, muss ich mit dem Fahrrad schnell zum nächsten Kiosk fahren, um völlig überteuerte Batterien zu kaufen. Wir trinken noch ein Bier und trinken noch ein Bier und an irgendeiner Stelle muss Sean schmunzeln. Er fasst unsere Gesprächssituation treffend in einen Satz: „Ein Autor fragt den anderen Autor, während um sie rum Autos vorbeifahren.“ Das ist ein guter Titel, denke ich, und wir reden über die Rolle der Autor_innen im deutschen Theater, über Nachwuchsförderung und Uraufführungs-Hype. Wir reden über die Notwendigkeit einer Art Theaterautor_innen-Vereinigung, wie sie seit Anfang des Jahres von Kolleg_innen gemeinsam oder auch gegeneinander diskutiert wird – aber ich will noch einmal zurück zu „Und“ und zu den Nebeln, die mich nicht loslassen.
Carsten:
Nochmal zurück zu deinem Nebel, Sean. Ich finde, dass „Und“ ja schon eine sehr körperliche Sprache hat, also genuin eine Theatersprache. Wie passt das mit dem Nebel zusammen?
Sean:
Ich finde Nebel nicht unkörperlich. Also, ich sehe da nicht so ein leichtes Wabern an einem Herbstmorgen auf der Wiese, sondern schon einen dichten Theaternebel. So einen choreografierten Nebel. Und bei „Und“ habe ich dann beim Schreiben auch tatsächlich Choreografien mit echten Körpern gesehen. Also Tanz.
Carsten:
Jetzt ist „Und“ ja noch nicht uraufgeführt. Wärest du denn für einen wie auch immer gearteten Regie-Zugriff auf deinen Text offen?
Sean:
Einerseits weiß ich natürlich, dass das Bild, was ich habe, nicht realisierbar ist. Andererseits finde ich das ja aber am Theater gerade so geil, dass ich irgendwas reinwerfe, und irgendein anderer Mensch holt da was völlig anderes raus. Ich habe es für mich noch nicht gefunden, wie ich beteiligt sein will.
Carsten:
Würdest du „Und“ gerne selber inszenieren?
22 Sekunden lang schweigt Sean. 22 Sekunden, in denen unzählige Autos vorbeifahren. Ein Moped. Ein Baby schreit am Nachbartisch. Dann antwortet Sean. Und zwar extrem langsam für sein gewöhnliches Sprechtempo.
Sean:
Nicht alleine. Aber ich hätte bei „Und“ tatsächlich schon Lust drauf, ja. Als fürs Theater Schreibender ist mein Traum aber natürlich schon, dass sich Qualitäten oder nicht vorhandene Qualitäten eines Theatertextes durch mehrfache Inszenierungen von verschiedenen Menschen in verschiedenen Kontexten an verschiedenen Häusern mit verschiedenen Ensembles und mit verschiedenen Möglichkeiten zeigen. Und deshalb wäre es für mich das Schönste, wenn ich es nicht selber machen müsste. Wenn ich mir zum Beispiel drei Varianten angucken könnte. Was aber natürlich utopisch ist, wenn man sich die Gegenwartsdramatik anguckt. Wie sie vorkommt, behandelt wird und stattfindet. Also prinzipiell kann ich mir schon vorstellen, zusammen mit anderen einen eigenen Text zu inszenieren. Und gerade auch „Und“, ja.
Carsten:
Sean, lass mich bitte mal ganz kurz von meiner eigenen Leseerfahrung mit „Und“ erzählen. Ich hatte zum Beispiel den Eindruck, „Und“ ist schon ganz schön fatalistisch. Ich meine. Extrem verknappt erzählt „Und“ eine zwangsläufige Lebensgeschichte von der Zeugung bis zum Tod. Das hat doch was von Fatalismus – auch wenn diese Lebensgeschichte unzählige Möglichkeiten versammelt.
Sean:
Aber es fehlt ja ganz viel! Je länger es her ist, dass ich das geschrieben habe, umso mehr merke ich, wie viel in dem Text fehlt. Wie viel ich versucht habe, reizupacken. An wievielen Stellen sich Menschen aber nicht mehr gesehen fühlen. Sich im Text nicht wiederfinden können. Und deshalb meine ich den Text auch als Aufforderung. Dass da Menschen was dazusetzen können. Der ist ja nicht verschlossen, der Text. Natürlich darfst du streichen. Und, bitte, ja, ergänze den Text!
Carsten:
Ist der Text für dich denn fertig?
Sean:
„Und“ ist für mich dahingehend fertig, dass ich sage, das hier ist eine Fassung, die ich jetzt rausgebe. Aber ich veränder auch immer wieder irgendwas, wenn ich den Text verschicke. Mal ein paar Sätze raus, ein paar Sätze rein. Nie massiv. Also nicht ganze Passagen. Aber ich glaube, ich kann mir auch gar nicht anmaßen, die ganze Welt zu erzählen. Ich kann ja immer nur aus meiner Sicht schreiben. Aber die verändert sich ja mit der Zeit. Fertig ist „Und“ also nicht. Aber es ist ja auch Theater.
Carsten:
Nochmal zurück zu meiner Leseerfahrung. Kannst du mit dem Fatalismus, den ich aus „Und“ rausgelesen habe, was anfangen?
Sean:
Ich möchte mir und allen Menschen, die ich lieb habe und die um mich rum sind, und auch all den anderen, die ich nicht kenne, immer erzählen, dass wir unglaublich viele Möglichkeiten haben. Und die haben wir ja auch. Hypothetisch. Auf irgendeine Art und Weise. Gleichzeitig möchte ich aber auch nicht diesem neoliberalen Ding anheimfallen, das dem Individuum die komplette Verantwortung überträgt für alles, was ihm passiert und widerfährt. Am Ende von „Und“ bringen sich ein paar Leute um. Ja. Aber auch das muss nicht sein. Die Frage ist doch vielmehr, wem ich welches Recht zugestehe. Was kann ich wie erklären? Keine Ahnung. Je nachdem, wie du es baust, ist es der oder die oder die oder der, der es dann macht. Oder eben auch nicht. Kannst du auch weglassen. Mein Gott. Kannst auch sagen, ist mir alles zu fatalistisch. Und dann streichst du das eben.
Streichen, ja. Schon seit einiger Zeit surren in meinem Kopf nicht mehr die Motorengeräusche, sondern vielmehr Striche. Wie soll ich die Aufnahme unsres Gesprächs denn jemals und überhaupt transkribieren? Allein schon der Fülle wegen, die jegliche Form eines Interviews sprengt! Aber auch wegen Seans Sprache. Wird eine Transkription seiner Erzählungen, in denen er in High-Speed Wörter und Gedanken und Ideen und Positionen und Bedenken aneinanderreiht und zwischen ihnen immer wieder hin und her springt – würde eine getreue Transkription dieses Erzählflusses denn jemals Lesbarkeit entwickeln? Nein, denke ich und denke, dass ich wahrscheinlich extrem eingreifen werden muss. So wie Sean seinen Text „Und“ als Aufforderung verstanden wissen will, so werde ich wohl auch unser Gespräch als Aufforderung verstehen müssen, bei der Transkription immer wieder zu sortieren, umzustellen, zu überschreiben, natürlich zu streichen – und Punkte zu setzen. Was wird nicht alles fehlen!? Weswegen die Transkription eigentlich nicht wirklich eine Transkription sein wird und ich morgen ein Gespräch aufschreiben werde, das so nicht stattgefunden hat – nur so ähnlich. Mir kommen begründete Zweifel an meiner Interpretation der Rolle als Interviewer. Aber hat Sean nicht an irgendeiner Stelle dieses Gesprächs gesagt, dass er mir morgen vielleicht ganz was anderes erzählen würde als heute? Egal. Heute ist heute, und morgen ist morgen. Sean und ich trinken noch ein letztes Bier und landen schließlich beim Theater an und für sich und bei der Mutter aller Wünsche (zumindest für Theatermenschen), dass das Theater nämlich die Welt verändern könne. Sean ist skeptisch.
Ich fände es schön, wenn Theater mit irgendjemandem wenigstens irgendwas machen würde. Aber mein Hauptwunsch ist, dass ich irgendwann mal einem Menschen das Leben rette. Also nicht im Theater. Sondern einfach als Mensch. Deshalb wollte ich früher auch immer Arzt werden. Und ich finde das nach wie vor immer noch einen wahnsinnig geilen Beruf. Ich hab nur in den vergangenen Jahren ein Problem mit Blut entwickelt. Ich kann kein Blut mehr sehen. Also bei anderen. Bei mir selber ist das egal. Aber sobald andere Menschen Blut verlieren, Feierabend.
Carsten:
Perfekt! Feierabend. Damit beenden wir das Gespräch. Ein besseres Ende werde ich heute nicht mehr finden.
Kurze Pause.
Sean:
Echt?
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Ein Gedanke zu “[Sean Keller/UND/Carsten Brandau] „und du verzweifelst fast bei dem gedanken an die unendlichkeit“”