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In Vorbereitung der Lesungen aus den Stücken der Auswahl 2021 des deutschsprachigen Komitees Eurodram am Deutschen Nationaltheater Weimar am 29. August 2021 im Rahmen des Kunstfestes Weimar führte Charlotte Bomy (Eurodram) das nachstehende Interview mit Christine Bais.
1) Liebe Christine, du bist freiberufliche Übersetzerin und arbeitest unter anderem zu flämischer und holländischer Dramatik. In welchem Zusammenhang/Rahmen hast du das Stück von Nico Boon „Tritt auf/Geht ab“ entdeckt und ins Deutsche übersetzt?
Die meisten Übersetzungen fertige ich in Auftrag von Theatern, Theatergruppen und Verlagen an, aber ich bin selbst auch immer auf der Suche nach guten Texten, die für das deutschsprachige Theater interessant sein könnten. Nico Boon fand ich auf der Autorenliste vom Literaturfonds Flanders Literature, der sehr engagiert und mit einem speziellen Förderprogramm flämische Theaterliteratur im Ausland promotet. Boons Texte waren bisher noch nicht übersetzt. „Tritt auf/Geht ab“ hat mich gleich beim ersten Lesen umgehauen. Ich nahm Kontakt mit dem Autor auf, der wie ich große Lust hatte, mit diesem Text Schritte Richtung Deutschland zu unternehmen. Dank der finanziellen Unterstützung von Flanders Literature konnte ich sein Stück übersetzen und im deutschsprachigen Raum anbieten.
2) Welche besonderen Herausforderungen birgt der Text und wie hast du sie gelöst?
Der Text besteht aus mehreren Teilen, die sich stilistisch sehr unterscheiden, aber thematisch eng miteinander in Verbindung stehen, ohne einem klassischen Stückaufbau zu folgen. Sie können laut Autor sogar in unterschiedlicher Reihenfolge gespielt werden.
Es war wichtig, inhaltlich präzise zu arbeiten und gleichzeitig die vielen Klangfarben des Textes widerzuspiegeln. Das gilt natürlich immer und für alle Theatertexte, aber bei „Tritt auf/Geht ab“ fand ich die Variationen im Erzählstil und die offene Struktur in Kombination mit den teilweise subtilen Querverbindungen zwischen den Teilen sehr spannend. Ich habe beim Übersetzen immer wieder heran- und wieder weggezoomt. Wenn ich eine Weile mit Details beschäftigt war, habe ich den Text danach nochmal im Ganzen gelesen, oft auch laut, das hilft, den treffenden Rhythmus zu finden und sich mit dem Text sehr vertraut zu machen. Bei „Tritt auf/Geht ab“ entdeckt man vieles erst bei genauerem Hinsehen.
Nico Boon benutzt in diesem Text gerne Aufzählungen, um mit wenigen Worten starke Bilder und Effekte zu erzeugen. Einer der Teile des Stücks besteht sogar komplett aus einer sehr dynamischen Liste, die Passagen enthält, bei denen alle Zeilen mit demselben Wort beginnen. In der deutschen Grammatik ging das so nicht, deshalb habe ich hier eine grammatikalische Änderung vorgenommen, um diesen Rhythmus zu erhalten. Das heißt, grammatikalisch weiche ich hier vom Quelltext ab, bleibe aber gerade dadurch näher am Text. Auch bei einem Wortspiel mit der wortwörtlichen und übertragenen Bedeutung einer Wendung musste ich umformulieren, da es sonst verloren gegangen wäre. Last but not least enthält das Stück auch ein gereimtes Gedicht. Um meiner Kreativität hier auf die Sprünge zu helfen, habe ich mit einem Kollegen gebrainstormt, eine faszinierende, effiziente und vergnügliche Methode, die zu Ergebnissen führt, auf die der oder die Einzelne vielleicht nicht oder nicht so schnell gekommen wäre. Ich profitiere sowieso vom Austausch mit Kolleg*innen, im Allgemeinen oder im konkreten Fall und vor dem Abschluss der Übersetzung habe ich sie auch lektorieren lassen, ein sehr wertvoller Teil dieses Prozesses.
3) Welche Gedanken oder Gefühle hat der Text bei dir ausgelöst?
„Tritt auf/Geht ab“ hat mich stark berührt, so wie er unsere Menschlichkeit zeichnet. Er macht die Verletzlichkeit des Lebens sehr konkret fühlbar ohne sentimental zu werden. Einerseits stehen wir mehr oder weniger verloren da, im Chaos, dem Zufall ausgeliefert, andererseits können wir das Leben beeinflussen, sind immer in Verbindung, können Erinnerungen formen, Geschichten, und so unserem Leben Bedeutung geben und Halt. Aber wie (re)konstruieren wir Biographien? Was beleuchten wir, was lassen wir weg, was sind dabei unsere Triebfedern? Welche Verantwortung und Macht verbirgt sich in der Formung von Bildern? Welche Kraft bietet sie, wo schränkt sie ein oder manipuliert sie? Wo verläuft die Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion?
Die Geschichten in „Tritt auf/Geht ab“ sind wie Variationen zu den Themen, die Nico Boon hier beschäftigen. Der poetische Text ist dabei abwechselnd persönlich, emotional, humorvoll, journalistisch, politisch, spielerisch, absurd. Ich fand es unheimlich inspirierend und wohltuend, mit dem Text durch all diese Facetten des Fühlens und Denkens zu reisen, immer wieder Perspektiven wechselnd.
Ich danke dir für dieses Interview.
Geboren 1972 in Düsseldorf, studierte Christine Bais von 1992 bis 1998 Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften, Literaturwissenschaft und Linguistik an der Freien Universität Berlin. Neben ihrem Studium arbeitete sie als Regie- und Produktionsassistentin. Seit 2000 lebt und arbeitet sie in Amsterdam. Seit 2009 ist sie freiberufliche Übersetzerin.
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2 Gedanken zu „Interview mit Christine Bais über ihre Übersetzung des Stückes von Nico Boon „Tritt auf/Geht ab“ (Auswahl 2021) aus dem Niederländischen“