Das Stück von Nico Boon, TRITT AUF GEHT AB [Komt op/Gaat af], Belgien 2020 war in der Übersetzung von Christine Bais eines der Stücke der Auswahl 2021 des deutschsprachigen Komitees Eurodram. Es kann jetzt in vollständigem Textumfang heruntergeladen werden. Bei Verwendungsinteresse bitte Mail an Christine Bais: c.bais [a] xs4all.nl
Ein kleiner Textauszug:
ANFANG
Am 17. Dezember 2002 wache ich mitten in der Nacht auf.
Der Dozent, der mir am Tag zuvor auf der Schauspielschule meine erste Beurteilung gab, sitzt auf der anderen Seite des Zimmers.
Er raucht eine Barclays Filterzigarette. Schaut mich an durch seine Brillengläser, in denen sich die rot leuchtenden Ziffern meines Radioweckers spiegeln.
Ich weiß, dass ich halluziniere.
Der Dozent steht auf, klopft die Asche seiner Zigarette ab, auf eins der Bücher, die offen auf dem Fußboden liegen, tritt an mein Bett und beugt sich über mich.
Hinter den rot leuchtenden Brillengläsern sehe ich die Falten um seine strengen, durchdringenden, meist ironisch blickenden Augen.
Träge führt er seinen Zeigefinger in Richtung meiner Stirn. Hält einige Millimeter vor meiner Haut inne. Murmelt, kaum verständlich: „Ist da eigentlich jemand, in diesem Kopf?“ Tippt dann mit dem Zeigefinger auf meine Stirn, im regelmäßigen Rhythmus eines mehrfachen SOS-Morsezeichens.
Bis ich – der eigentlich schon schläft – im Schlaf wieder in Schlaf falle.
Der Geruch seines Davidoff-Deodorants wabert dann noch eine Weile durchs Zimmer.
Am nächsten Tag, dem 18. Dezember 2002, zufällig mein Geburtstag, nehme ich nicht meinen gewohnten Weg ins Stadtzentrum, sondern entschließe mich, einen langen Umweg zu machen.
Warum, weiß ich nicht genau. Vielleicht, weil mir ein langer Umweg eine schöne Metapher für mein Leben scheint.
Am Vossenplatz werde ich müde und setze mich auf eine Bank.
Ein Mann, den ich aus dem Café kenne, läuft vorbei. Ich winke.
Ich scrolle, weil mir das eine Funktion zu verleihen scheint, durch die Nachrichten auf meinem Handy.
Dann schaue ich nach links.
Zwischen meiner Bank und dem Mülleimer ein Stückchen weiter, sehe ich etwas liegen. Etwas Rechteckiges.
Ein Päckchen, so scheint es.
Ich gehe hin. Wickle ohne groß nachzudenken die gelbe Papiertüte ab, schlage das Buch, das darin war, auf.
Übersetzung aus dem Französischen ins Deutsche (Original leicht verändert): Wolfgang Barth
Gilles Boulan, ehemals Koordinator des französischsprachigen Komitees Eurodram, schreibt regelmäßig seit vielen Jahren literarische Berichte zu den Jahreshauptversammlungen, in denen er seine persönlichen Eindrücke festhält.
Nach einer ereignisreichen Reise, die beinahe ihr Ende auf einem Bahnsteig in Mantes-la-Jolie genommen hätte, stehen wir nun in Madrid. Die durchaus anekdotische und nicht so wichtige Eisenbahn-Episode symbolisiert gewissermaßen in zweifelhafter Ironie den Weg, der zurückgelegt werden musste, um zu diesem Treffen in Madrid zu kommen. Seit der letzten Hauptversammlung in Montreuil sind zwei Jahre vergangen, zwei Jahre voller Einschränkungen und des erzwungenen Stillstandes, in denen unsere Widerstandskraft und die durch Verschiebungen und Unwägbarkeiten angeschlagene Begeisterung auf eine harte Probe gestellt wurden. Aber jetzt sind wir endlich da. Allen Schwierigkeiten und Pandemieauflagen zum Trotz nahm unsere Entschlossenheit keinen ernsthaften Schaden, und so sind inklusive der spanischen Freunde gut 15 Teilnehmer angereist.
Von manchen alten Gewohnheiten verabschiede ich mich, und so hatte ich nicht von vornherein vor, diese Aufzeichnungen zu verfassen. Dass sie nun vorliegen, ist dem Erfolg unseres Treffens zuzuschreiben und dem Vergnügen, das es uns bereitete. Aber wie soll man von diesen drei Tagen in Madrid erzählen ohne in ein unpersönliches Protokoll abzugleiten? Am besten lasse ich mich vom Fluss der Bilder und ungeordnet, willkürlich sich einstellender Erinnerungen tragen. Improvisation ohne Sicherheitsnetz ist angesagt, man wird schon sehen, was daraus wird.
Viviane und ich waren noch nie in Madrid, und unsere ersten Eindrücke von der Stadt gewinnen wir bei Nacht. Beim Verlassen der Metrostation Colon empfängt uns ein großer, beleuchteter Platz. Ein Stück weiter steht eine große Froschskulptur auf dem Bürgersteig gegenüber einem Kasino und einem Wachsfigurenkabinett. Das hochbeinige Kunstwerk und die Touristenattraktionen stehen in diametralem Gegensatz zur urbanen Landschaft, aber dennoch ist unser erstes Bild das einer majestätischen Metropole mit hohen, klassischen Fassaden und regelmäßig ausgerichteten Fenstern, prächtigen Gebäuden mit ehrgeiziger Architektur, Brunnenskulpturen in der Mitte der Straßenrondelle und baumbestandenen Promenaden, in deren Vegetation eingebettet Lokale ihre Terrassen öffnen. Zur Vervollständigung des nächtlichen Gemäldes hat sich der Vollmond über die Dächer geschoben und hüllt zärtlich die majestätische Umgebung in sein fahles Licht.
Ein Palast ist das Hostal Prim nicht, in dem wir unser Gepäck abstellen, aber es bietet in gepflegter Sauberkeit einen bescheidenen Komfort. Sein größter Trumpf ist die Lage mitten im Herzen der Altstadt, nicht weit vom Prado, dem weitläufigen Retiro-Park und vor allem vom Sitz der SGAE-Stiftung, dem spanischen Gegenstück zu unserer französischen SACD. Das Besondere des Hotels besteht darin, dass es sich im zweiten Stock eines relativ unauffälligen Gebäudes befindet, an dessen Eingangspforte man ohne Weiteres vorbeigehen kann, ohne sie zu bemerken. Man muss schon nach oben schauen, wenn man das Hotelschild sehen und die Bauarbeiten vergessen möchte, die den Bürgersteig verengen. Wir lassen die beiden Türen im Erdgeschoss hinter uns und steigen die Treppe zur zweiten Etage hoch. Den Gitterkastenaufzug haben wir mutig ignoriert, wir vertrauen ihm nicht so recht. Durch die Flurtür geht es in die Rezeption. Während wir die üblichen Formalitäten erledigen, teilt uns der Herr am Empfang mit: „Mister Wolfgang is arrived but outside with Lady Johanna.“ Obwohl das sicherlich keine wirkliche Überraschung ist, berührt uns diese Information doch wie ein Willkommensgruß.
Der Hunger treibt den Wolf aus dem Wald, sagt man. Nach schneller Einrichtung im Zimmer verlassen auch wir das Hotel wieder auf der Suche nach einem Restaurant auf dem Paseo de Recoletos. Wir geben uns keine große Mühe, entscheiden uns für ein chinesisches Restaurant, das Mandarin, und versinken dort in tiefen Sesseln, die wie Käfige aussehen. Ein noch reizvolleres Detail: Der Speisesaal befindet sich im Zwischengeschoss über einer Spielhalle mit Spielautomaten, Roulettetischen und anderen Glücksspielgeräten. Von unserem Tisch aus können wir die seltsamen Bilderkombinationen auf den Bildschirmen vor den nervösen und gespannt aufmerksamen Spielern sehen. Mit gebotener asiatischer Höflichkeit schafft es die Kellnerin, unsere Bestellung auf der Grundlage einer etwas undurchsichtigen Speisekarte auf Chinesisch und Spanisch entgegenzunehmen.
Auf dem Rückweg ruft uns Wolfgang an, und gleich darauf treffen wir ihn in Begleitung von Johanna und Nicole auf der Straße vor dem Hotel. Welche Freude, uns wiederzusehen und uns gegenseitig die Einzelheiten unserer jeweiligen Menüs zu berichten. Der Abend endet mit einer vergleichenden Zimmerbesichtigung, unsere besondere Aufmerksamkeit gilt den Duschvorhängen.
Wir hatten uns zum Frühstück, das im Hotel nicht angeboten wird, verabredet und finden uns in einer sehr modernen Bäckerei wieder, die gleichzeitig Café ist und deren Backstube man hinter einer Glastrennwand vollständig einsehen kann. Der Geruch von warmem Brot, das Zischen der Kaffeemaschinen im Dialog mit dem Kneten des Brotteiges in den Bottichen und die etwas lärmende Musik bilden den Hintergrund unserer zwangsläufig noch lauteren Gespräche. Dominique, der am Vortag etwas später angekommen war, gesellt sich zu uns, und bald ist es Zeit, zur SGAE-Stiftung zu gehen, wo unsere GA in einem kleinen, hellen und funktionalen Raum staffindet. Dort treffen wir David mit Victor und mehreren Mitgliedern des spanischen Komitees schon bei der Arbeit an. Er kämpft mit den letzten Tücken der Zoomverbindung. Neben den Frühstücksgästen sind anwesend Darko vom BCMS-Komitee, Laetitia vom italienischen, mit leichter Verspätung Mirza mit Partnerin Hicran (kurdisches Komitee) und Gergana und Ilyana, auf direktem Weg hierher gekommen nach der Landung ihres Flugzeuges aus dem fernen Bulgarien.
Der erste Teil des Vormittags gilt den Begrüßungsreden und der traditionellen Tischrunde, bei der sich jede/r in einer der drei verfügbaren Sprachen (kosmopolitisches Englisch, Kastilisch und Französisch) vorstellt. Es folgen eine kurze Darstellung der Geschichte Eurodrams anlässlich des zwanzigjährigen Bestehens des Netzwerks durch Dominique und ein Treffen mit David Perolta, dem Leiter der Joven Compania, einer Vereinigung für junge Schauspieler in einem sehr engagierten Projekt für Berufsausbildung, kulturelle Aktion und Förderung eines Repertoires für junge Erwachsene. Bei dieser Organisation sind wir am Abend zur Vorstellung der Stücke der Auswahl des spanischen Komitees eingeladen, worauf ich später zurückkomme.
Am Ende der Tagesordnung steht nach kurzer Kaffeepause die Vorstellung der Jahresberichte der einzelnen Komitees live durch die anwesenden Koordinator*innen, per Videokonferenz oder in Dominiques Zusammenfassung.
In betriebsamer, entspannter Stimmung und sehr sympathischem Sprachenmix vergeht der Vormittat schnell und es ist schon fünfzehn Uhr. Wir begeben uns zum Mittagessen in eine nahe gelegene Gaststätte. Die dynamische Conchita hat uns einen Tisch reserviert. Das Café Gijon ist ein berühmtes, historisches Lokal am Paseo de Recoletos, Stammkneipe vieler Madrider Schriftsteller. Die Einrichtung passt, und die Küche ist in etwa so rustikal wie die schweren Möbel aus unbehandeltem Holz. Die Atmosphäre entspricht sehr unseren Ansprüchen an Authentizität. Die Speiskarte ist auf Spanisch, aber Edouard übersetzt sie ins Französische. Diese Übersetzung muss aber noch einmal übersetzt werden, jetzt ins Englische. Der Kellner verliert in dieser mehr oder weniger disziplinierten Vielsprachigkeit ein wenig die Orientierung. Aber am Ende hat jeder seinen Teller, seine Cerveza, sein Glas Wein oder sein Mineralwasser. Gute und schlechte Überraschungen für die einen oder anderen, aber nicht bei der Rechnung, die ausgesprochen günstig ausfällt.
Die Kaffees sind getrunken, die Rechnung bezahlt, schon ist es Zeit, zur U-Bahn-Station zu gehen und zur Calle Antonio Lopez zu fahren, wo die angekündigte Lesung stattfindet. Aber diese Rechnung haben wir ohne den Wirt gemacht, denn wir müssen an der Metrostation Opera umsteigen, was eine Teilung unserer Gruppe in Treppensteiger nach oben und Rolltreppenfahrer abwärts zur Folge hat. Die Episode wird erst wieder am Aufführungsort durch den freundlichen Protest Nicoles bereinigt: „Wir haben auf euch gewartet!“
Die Spielstätte der Joven Compania befindet sich in einem volkstümlicheren Viertel, ganz anders als das Stadtzentrum. Früher war dies wohl eine recht große Fabrik mit hohen Decken, jetzt befinden sich darin die Räume eines alternativen Theaters. Am Ende des sackgassenähnlichen Eingangskorridors lesen einige junge Leute fleißig noch einmal ihren Text, das Publikum plaudert gemütlich, dann geht es in den mit einfachen schwarzen Stoffbahnen abgehängten und mit ein paar Stuhlreihen möblierten Veranstaltungsraum. Da wir kein Spanisch sprechen, sehen wir der Lesung mit gemischten Gefühlen entgegen. Grundlos, wie sich zeigt, denn die Darbietung überzeugt absolut. Eine Synopsis auf Englisch gleicht die mangelnden Sprachkenntnisse aus. Gut dreißig junge Schauspieler, schwarz gekleidete junge Frauen und Männer. bieten uns eine sehr lebendige chorische Lesung von Auszügen aus den drei Texten der spanischsprachigen Auswahl. Es herrscht Maskenpflicht, und so konzentriert sich der gesamte Gesichtsausdruck in den Blicken ohne überschwängliche Kommentare, was dem Spiel Dichte und der dramatischen Aussage Gewicht verleiht. Das konnten wir trotz der Sprachbarriere sehr gut verstehen. Nach dieser bemerkenswerten, von Victor inszenierten Lesung verweilen wir noch ein bisschen im Eingangskorridor und tauschen uns mit mehreren Mitgliedern des Ensembles aus, die wir dann wieder in einem Bistro in der Nähe treffen, wo das Bier dreimal billiger ist als im Zentrum der Königsstadt.
Die Tage sind lang in Madrid und enden in der Regel mit einer letzten Cerveza und Tapas. Die Kneipeninhaber warten geduldig, bis sie das Licht löschen können.
Von manchen alten Gewohnheiten verabschiede ich mich, wie gesagt, aber neue kommen schnell hinzu. So erfüllen nach einer ziemlich kurzen Nacht beim Frühstück in der modernen Bäckerei wieder am selben Tisch wie am Vortag unsere Gespräche den Raum.
Bei der SGAE hat sich nicht viel geändert, aber zwei neue Gäste sitzen am Tisch der Aula: Nikolina vom BCMS-Komitee und David vom ungarischen. Der Morgen beginnt mit der Vorstellung der Ediciones Antigona, eines auf die Übersetzung ausländischer Theaterstücke ins Spanische spezialisierten Verlages, in schnellem und klangvollem Redefluss durch die Geschäftsführerin Conchita. Wir tauschen uns sehr intensiv über die Schwierigkeiten aus, Fördermittel für diesen Verlagssektor zu bekommen. Dann folgt Paola per Zoom aus London. Sie leitet dort das Cervantes Theatre, das zeitgenössische spanische Stücke in Originalsprache oder auf Englisch zur Aufführung bringt.
Nach einer kurzen Kaffeepause findet die eigentlich Hauptversammlung (GA) statt, deren durch Videokonferenzbeiträge unerwartet veränderte Tagesordnung sich in leidenschaftlichen Diskussionen und deren Übersetzung zur Erbauung aller entwickelt und zu einer Reihe von meist einstimmigen Beschlüssen führt. Ein spätes Mittagessen in einer Art Kantine unterbricht unseren Arbeitstag, der sich mit der Vorstellung der Auswahlstücke der Komitees fortsetzt.
Als wir den Versammlungsraum verlassen, um auf der Plaza de Chueca ein oder mehrere Gläser zu trinken, ist es bereits Nacht. An der Theke feiern wir gemeinsam den Abschluss der Madrider GA. Nach Meinung aller war sie ein demokratischer Erfolg für Eurodram und für die Teilnehmer ein wohltuend geselliges Ereignis.
Sonntagmorgen. Auf dem Paseo de Recoletos findet ein Langlauf statt, der logischerweise den Autoverkehr unterbricht. Auf dem von Fahrbahn und Gegenfahrbahn gesäumten Mittelstreifen treiben Angestellte der Stadtreinigung mit dem Laubgebläse Laub vor sich her.
Gleich daneben sind die Terrassen der Bistros vor der Öffnung noch menschenleer. Einige wenige Zuschauer warten auf die Läufer. Morgenbild von Madrid in Herbstfarben und ohne Autolärm.
Wenn man Gewohnheiten verfestigen will, vergisst man sie am besten manchmal. Das Sonntagsfrühstück findet daher nicht in unserer üblichen Bäckerei statt, sondern im Büro der Ediciones Antigona, wohin Conchita alle Teilnehmer*innen eingeladen hat. Ein kräftiger Espresso, Gebäck und Süßigkeiten inmitten der beeindruckenden Anzahl an Publikationen. Das Motto des Hauses kann man auf Tragetaschen lesen: El teatro tiene que se leer. Und wirklich, hier gibt es einiges zu lesen, zumindest für die der spanischen Sprache Mächtigen.
Unter den Gästen von Conchita ist auch Cristina. Als französische Schauspielerin ist sie nach Madrid gezogen, wo sie von ihren Übersetzungen und einem Lehrauftrag an der Universität lebt. David hat sie gebeten, zwei Stunden lang einen Übersetzungsworkshop zu leiten. Sie schlägt vor, den Workshop als Diskussion über Methoden des Übersetzens zu gestalten. Diesmal gibt es keine Übersetzung ins Englische, sondern einen sehr freien Austausch auf Französisch oder manchmal auf Spanisch für Conchita.
Viviane und ich verzichten nach diesem Treffen auf die Teilnahme an einer letzten englischsprachigen Zoom-Konferenz und nutzten die Gelegenheit, uns ein wenig in der Stadt bis hin zum Real Jardín Botánico umzusehen. Verirren kann man sich nicht: Auf breiten Alleen geht es geradeaus. Zuerst die Plaza de Cibeles mit seinem von Löwen gezogenen Wagen der Göttin Kybele und dem beeindruckenden Palacio de Comunicaciones. Dann gehen wir durch die baumbestandene Allee des Paseo del Prado zur Plaza de Castilla mit dem Neptunbrunnen, wo der Gott des Meeres dem Hotel Ritz den Rücken zukehrt. Vor dem Prado schnattern grüne Wellensittiche in den Bäumen. Einige Künstler fertigen mit Aquarell oder Bleistift Reproduktionen berühmter im Museum ausgestellter Werke an. Die Statue von Velasquez schaut ihnen mit Wohlwollen und schweigend zu.
Vor dem Eingang des Botanischen Gartens, den wir von außen durch die Gitter bewundern, bildet sich eine Schlange und wir machen uns auf den Weg zum Parque del Retiro. Madrider Sonntagsstimmung. Einheimische Familien mischen sich mit Touristen in den Alleen, auf den Terrassen der Chalets oder in den Booten des Estanque Grande , eines künstlichen Sees, an dem ein Denkmal für Alfonso XII steht, eine Reiterstatue über einem Säulengang. Hier und da geben Straßenmusiker Konzerte, und vor dem Palacio de Cristal erklingen Jazz-Standards als Antwort auf den Walzer von Schostakowitsch. Seltsamerweise passt das gut zusammen und es entstehen keine Missklänge.
In einem Garten am Rande, dessen Namen ich mir nicht notiert habe, stolzieren Pfauenhennen und -hähne herum und lassen sich mit ihrem Nachwuchs fotografieren, während ein zaghafter Sonnenstrahl durch die Wolken bricht.
Wir weilen immer noch im Retiro, als Wolfgang uns anruft und fragt, ob wir uns der Gruppe in einem Restaurant an der Puerta del Sol anschließen möchten, wo er uns abholen würde. Es klappt auf die Minute, und das Wiedersehen vor der Metrostation auf einem sehr belebten Platz, auf dem wir uns ohne Smartphones leicht hätten verpassen können, ist ein Leichtes.
Ein etwas kleiner, runder Tisch auf der Laufstrecke der Bedienung, Hocker, getrocknete Schinken über dem Tresen, die Taverna La Tia Cebolla setzt auf touristisch rustikal in diesem Madrider Viertel, in dem die Restaurants florieren und die Terrassen nur an der Farbe der Stühle zu unterscheiden sind.
Die Speisekarte ist international und mit mehr oder weniger ansprechenden Fotos illustriert, die Mengen sind üppig und die Gerichte wenn auch nicht subtil, so doch gut sättigend. Aber das Vergnügen liegt im Zusammensein beim letzten gemeinsamen Madrider Essen, zumindest was Laetitia, David und seinen Freund Christophe betrifft.
Ein kleiner Spaziergang nach dem Essen muss sein, und Johanna, Nicole, Wolfgang und wir lassen uns ohne Kompass durch die malerischen Gassen der Madrider Altstadt bis zur Plaza Major treiben, wo schon die Weihnachtsmarktbuden Einzug gehalten haben und so den Gesamteindruck des Platzes und den Anblick der wunderschön bemalten Fassaden beeinträchtigen.
Kurze Erholung im Hotel. Wir treffen uns zum Abendessen im trotz seiner Enge fast privat wirkenden Hinterzimmer eines etwas anspruchsvolleren Restaurants, in dem die Preise umgekehrt proportional zur Tellergröße sind. Die Speisekarte ist zwar auf Französisch, aber einige von uns stellen Lücken im eigenen Vokabular fest und fragen sich, was wohl genau eine „Tigermilch“ ist, die in unserer Fantasie eindringliche Bilder hervorruft. Wenn es keine vernünftigen Portionen gibt, sättigt uns eben albernes Gelächter, und zwar ganz ohne Gefahr für einen ausgeglichenen Finanzhaushalt. Mirza und Hicran haben, enttäuscht vom Kleinwuchs ihres Steak Tartare, den Tisch schon verlassen und versuchen ihr Glück anderswo.
Heute Abend wollen Dominique und Wolfgang nicht lange bleiben: Sie müssen früh aufstehen, um Zug und Flugzeug zu erreichen. Nicole muss nur die Straße überqueren und ist schon bei ihrer Vermieterin. Trotz unserer schweren Beine und der Müdigkeit dreier Tage haben wir uns noch einen letzten kleinen Nachtspaziergang vorgenommen, und in Begleitung von Johanna gehen wir noch einmal zum Real Jardín Botánico, wo raffinierte Illuminationen in flammenden Farben eine bizarre Landschaft in die Vegetation schneiden.
Im Terminal 1 des Flughafens Bajaras blicken große Glasfenster auf das Rollfeld und eine Hochebenenlandschaft. In Madrid regnet es jetzt und wir warten auf unser Flugzeug.