
Auswahl 2022 des deutschsprachigen Komitees EURODRAM: Rike Reiniger, Risse in den Wörtern, Theaterstückverlag München, UA 25.10.2018 Theater der Altmark Stendal; Buchfassung KLAK Verlag Berlin 2018
Text Maxi Obexer über Rike Reiniger, Risse in den Wörtern
Der 25jährige Alexander Philippi, genannt Sascha, ist wegen einer Dienstpflichtverletzung suspendiert und steht nun vor dem Publikum, das in diesem Stück zur bewertenden und prüfenden Untersuchungskommission wird. Sascha hat bei seinem Einsatz in Afghanistan einen getöteten Taliban, der auf dem Marktplatz verrotten sollte, heimlich begraben, weil er sich an die Worte der Verteidigungsministerin erinnert hat, daran, dass die Soldaten Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Werte verteidigten. Vor der Kommission soll Sascha das Gefecht beschreiben, in dem sein Freund Paule und der Taliban getötet wurden. „Da steht ein Mensch, schwankt hin und her. Der Mensch hat keinen Kopf mehr. Da, wo der Kopf saß, schießt ein schwarzer Strahl nach vorn. Um Gottes Willen, der Körper steht immer noch, fällt nach vorn, fällt nach hinten, ja um Gottes willen… Der Körper schlägt auf die Erde.“ Die Kommission befindet, diese Schilderung sei unglaubwürdig, sie weiche ab und klinge wie auswendig gelernt. Und tatsächlich hat Rike Reiniger hier Passagen aus dem Antikriegsbuch Heeresbericht von Edlef Köppen über den Ersten Weltkrieg eingebaut. Denn Sascha findet keine eigenen Worte, mit denen er die Bilder in seinem Kopf beschreiben könnte. Die Bilder verweigern sich und geben keine Ruhe, wenn man sie nicht versprachlicht. Die Kommission kommt zu der Entscheidung, dass Sascha alle Symptome einer akuten Belastungsstörung aufweist und somit nicht für eine Dienstpflichtverletzung zur Verantwortung gezogen werden kann.
Worte können Schutz bieten und ein Zuhause: Sascha wähnt sich glücklich, als er sich mit seiner Freundin eine gemeinsame Zukunft ausmalt, mit einem Haus, das sie bunt anstreichen wollen und einem Baby. Auf Julis Frage: „Welches Haus, Sascha?“ antwortet Sascha mit Edlef Köppen: Vier Mauern und ein Dach. Und man könnte hinzufügen: Mit soliden, festen Wörtern ohne Risse, mit Wörtern, die sich mit der Realität decken.
Die Beschaffenheit der Wörter verändert sich in diesem sprachlich kompakten und zuweilen tragisch-poetischen Stück, sie werden auf der einen Seite zusehends brüchiger und bröseliger, auf der anderen formen sie ein undurchdringliches Bollwerk, das man ebenso wenig ansprechen kann wie die gefühllose Kommission, die ihn bürokratisch und mit kalter Eloquenz krankschreibt und eine stationäre Behandlung anrät. Sascha ist einer, der den Worten zu sehr geglaubt hat und dafür bezahlen muss. Wie sagt sein ehemaliger Chef, der Bosnier Janovec, als er Sascha beim Kaffee zu Afghanistan rät: „Afghanistan ist Ponyhof im Vergleich zu Sarajevo damals. Und? Hat’s mir geschadet?“ Daraufhin schüttet er sich Schnaps in den Kaffee. So subtil und filigran baut Rike Reiniger ihr Stück.
Blažena Radas, Split, 26.10.2022

1967 in Wien geboren. Studierte Slavistik und Germanistik an der Universität in Heidelberg und lehrte deutsche Sprache, Literatur und Film in Heidelberg, Zadar und London. Lebt seit 2007 als freischaffende Literaturübersetzerin aus dem Bosnischen/Kroatischen und Serbischen in Split und bei Heidelberg. Seit 2014 Mitglied der Kroatischen Vereinigung freischaffender Künstler HZSU. Seit 2019 Mitglied des europäischen Netzwerks für Theater in Übersetzung EURODRAM.