Maxi Obexer über Rike Reiniger, Risse in den Wörtern

Info Rike Reiniger, Risse in den Wörtern
Blažena Radas zu Rike Reiniger, Risse in den Wörtern
Der Text basiert auf einem Gespräch, das Maxi Obexer und Rike Reiniger geführt haben.

Wir wissen wenig von den Einsätzen der Bundeswehr, von den Aufträgen und von den Zielen in den Krisen- und Kriegsländern. Wer sind die Leute, die sich verpflichten – oder anstellen lassen, was sind ihre Motive? Und welche Ordnungs- und Herrschaftsstrukturen finden sie vor?

In den vielen Gesprächen, die Rike Reiniger mit Einsatzkräften der Bundeswehr geführt hat, äußert sich der dringende Wunsch, weit mehr von ihren Einsätzen zu vermitteln, um uns künftig ein besseres Urteil erlauben zu können.

Denn, so Rike Reiniger, es sollte fester Bestandteil für den demokratischen Meinungsbildungsprozess sein, Bescheid zu wissen über die Verteidigungsmacht der deutschen Bundesrepublik, schließlich sind wir die Auftraggeber.

In ihrem Stück geht es um den Einsatz in Afghanistan.

Das Stück „Risse in den Wörtern“ – besticht in seiner klaren Form: es ist ein Gerichtsprozess, der gegen einen Angeklagten Sasha geführt wird, der die Dienstvorschriften missachtet hat und nun zur Rede gestellt wird. Das Gericht – diejenigen, die urteilen und richten, sind wir – das Publikum.

 Dies erinnert an die antike Tragödie, an die ursprüngliche Funktion eines politischen Theaterstücks, es geht um die Verantwortlichkeit aller – auch dann, und besonders dann, wenn es um den einzelnen, um das Individuum geht. Um die Bedingungen der Möglichkeit, ein Individuum zu sein.

Ein weiteres Motiv aus der griechischen Tragödie greift Rike Reiniger auf, es wird zum zentralen Verhandlungspunkt: Der Angeklagte hat gegen die Vorschrift einen Menschen beerdigt, der zum feindlichen Lager gehört. Wie in der „Antigone“ von Sophokles sollte der ausgemachte Feind – hier es ist ein Taliban, nicht beerdigt werden. Dies verkündet der Ortsvorsteher, ein Vertrauter der Bundeswehr, und diese hält sich an dessen Entscheidung. Schließlich geht es um Verbündete, die einander brauchen – die einen zum Schutz, der andere zur Machtdemonstration. Alle sind sie verstrickt, in einem Krieg fallen die klaren Linien zwischen Gut und Böse; die Zuweisung in Lager impliziert die Preisgabe der Moral. Vergessen wird das Menschliche und der einzelne Mensch. Sasha macht den Fehler, dass er sich mit dem getöteten Taliban identifiziert, dass er ihn als Einzelnen ausmacht und feststellt, wie sehr er ihm ähnlich sieht. Und er befragt den Toten als Menschen, fragt nach seinen Angehörigen, fragt sich, was ihn in diesen Krieg gebracht hat. Schließlich tut er das, was auch mit seinem toten Kameraden aus dem deutschen Lager getan wurde: Mit dem spärlichen Wasser, das er noch hat, wäscht er ihm das Gesicht.

Den Fall in Afghanistan stellt Reiniger in einen historischen Rahmen, in ihre Auseinandersetzung mit Edlef Köppen und seinen Aufzeichnungen in dem Buch: „Der Heeresbericht“. Edlef Köppen und sein Buch bezeugen seinen Wandel im Ersten Weltkrieg, als dieser als freiwilliger Soldat und später Offizier später zur Einsicht kommt, dass er nicht mehr kann, dass er nicht mehr will, dass er nach all dem, was er erfahren und gesehen hat, nicht mehr in diesen Krieg gehen kann. Er verweigert, wird vors Kriegsgericht gestellt und schließlich als Verrückter in die Nervenheilanstalt überwiesen. Auch hier ergibt sich eine Analogie: Für verrückt erklärt – und damit pathologisiert, wird auch das Verhalten von Sasha.

Es gibt etliche Analogien, und die führen zu dem, was für Rike Reiniger der wesentliche Punkt ihrer Auseinandersetzung ist.

Mit dem historischen Bericht von Edlef Köppen aus dem ersten Weltkrieg rückt Reiniger ein durchgängiges Motiv in ein Kontinuum des Krieges: Es geht um die Auslöschung des Einzelnen für ein größeres Ganzes, das gerade dadurch fragwürdig wird. Nur in einem Punkt unterscheidet sich der Veteran Sasha von Edlef Köppen: Sasha ist einer, dem die Sprache fehlt, dem die Wörter fehlen für die moralische Einordnung seiner Gewissensqualen, wie sie Edlef Köppen in seinem Buch beschreibt.

Die Aussagen von Köppen werden zu einer Anwaltschaft für Sasha, vor einer Richterschaft, dem Publikum. Und dieses soll die historische Einordnung in ihrem Urteil mit bedenken.

Deutlich wird zugleich die Gegenwart. Rike Reiniger geht es um die gegenwärtige Situation der Veteranen, in die leuchtet sie hinein. Und hier zeigt sich ein weiteres durchgängiges Motiv bis heute, das Thema der gesellschaftlichen Schichten. In die kriegerischen Konflikte geraten die sozial Schwachen. Es sind oft Menschen aus prekären Verhältnissen und den unterschiedlichsten existenziellen Nöten. Während die anderen über Politik reden, finden diese sich aus ganz anderen Gründen im Schlachtfeld wieder – und mit ihren Gewissensnöten.

Neben der klaren Form beeindruckt das Stück von Rike Reiniger mit einer klaren, sofort eingängigen Sprache, die voller Details ist und die zu den Hintergründen der sogenannten Einsatzkräfte führt: Was sind heute die Bedingungen jener, die in die Bundeswehr gehen? Welche prekären Lebensverhältnisse führen dazu? Die meisten, so legen die vielen Gespräche nahe, tun es aus nicht politischen Gründen. Und meist wissen sie wenig von dem, was sie erwartet, wenig von den Situationen, den Ängsten, den Nöten, mit denen sie  konfrontiert werden. Das Stück ist auch eines über Klassismus und diskriminierende Strukturen aufgrund unterschiedlicher sozialer Positionen.

Das Stück ist im Dokumentarstil geschrieben, mit einer sehr auf die Details, auf die konkrete Situation bedachten, genauen Dramaturgie. Es nutzt zugleich die Möglichkeiten des fiktiven Rahmens, um es in einen größeren Kontext zu stellen.

Das Stück ist das dritte in einer Reihe von zwei anderen, die die Autorin zum Thema „Sozialer Mut“ geschrieben hat. Im ersten schreibt sie über Sophie Scholl, im zweiten über den „Zigeuner“-Boxer Trollmann, 1933 deutscher Meister im Halbschwergewicht, 1944 ermordet im KZ.

Alle drei Stücke sind bedeutsam und sollten, sowohl einzeln als auch als Trilogie, weiterhin auf der Bühne zu sehen sein.

Berlin, 1. November 2022

Maxi Obexer

Foto: © privat
Maxi Obexer, Theaterautorin und Schriftstellerin, wuchs in Südtirol / Italien auf; sie lebt in Berlin. Sie erhielt u.a. den Robert Geisendörfer Preis, den Eurodram-Preis 2016 für „Illegale Helfer“, sowie den Potsdamer Theaterpreis 2017 für „Gehen und Bleiben“. Der Roman "Europas längster Sommer" wurde 2017 für den Bachmannpreis nominiert. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Philosophie und Theaterwissenschaft in Berlin. Gastprofessuren in verschiedenen US-amerikanischen Universitäten, u.a. am Dartmouth College und an der Georgetown-University in Washington. Sie lehrt regelmäßig am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2014 gründete sie das Neue Institut für Dramatisches Schreiben, Nids. Poetik-Preisträgerin der Alice Salomon Hochschule 2023.
www.m-obexer.de

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