Vorstellung der Stücke der Auswahl 2022 im Theaterhaus G7 Mannheim

Die Autor*innen der Auswahl 2022 des deutschsprachigen Komitees EURODRAM: Akın Emanuel Şipal, Raphaela Bardutzky, Rike Reiniger  
Alle Fotos dieser Seite, falls nicht anders erwähnt © Elisa Berdica
Galina Klimowa (Eurodram), Heinz Schwarzinger (Eurodram und Übersetzer R. Bardutzky Französisch), Aleksandra Lukoszek (Eurodram und Überetzerin R. Bardutzky Polnisch), Raphaela Bardutzky (Autorin FISCHER FRITZ), Emilie Leconte (Autorin BERTRAND FÄLLT AUS), Carsten Brandau (Eurodram, Autor), Wolfgang Barth (Eurodramm Koordination, Übersetzer Französisch), Pascal Wieand (Theaterhaus G7, Künstlerischer Leiter und Geschäftsführer), Inka Neubert (Theaterhaus G7, Künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin). Die Autorin Rike Reiniger (RISSE IN DEN WÖRTERN) und der Autor Akın Emanuel Şipal (MUTTER VATER LAND) sind nicht auf dem Foto, aber weiter unten im Text.

Vom 11. bis 13. November 2022 fanden am Theaterhaus G7 in Mannheim die Lesungen und szenischen Lesungen der Auswahl 2022 des deutschsprachigen Komitees EURODRAM statt:

Raphela Bardutzky, FISCHER FRITZ, Rike Reiniger RISSE IN DEN WÖRTERN und Akın Emanuel Şipal, MUTTER VATER LAND. Die Lesungen der Auswahl waren  möglich dank der Förderung durch den Deutschen Literaturfonds im Rahmen des Programmes „Neustart Kultur“ der Bundesregierung.

Sie waren eingebettet in das erstmalig durchgeführte Festival STÜCK FÜR STÜCK des Theaters, das drei weitere Stücke vorstellte: DER MANN AUS PODOLSK von Dmitri Danilow, überersetzt aus dem Russischen von Elena Finkel, ICH WILL DIE MENSCHEN AUSRODEN VON DER ERDE von María Velasco, übersetzt aus dem Spanischen von Franziska Muche, und BERTRAND FÄLLT aus von Emilie Leconte, übersetzt aus dem Französischen von Wolfgang Barth. Für diesen Teil des Festivals war das Theaterhaus G7 finanziell zuständig. Eine Förderung erfolgte über die Stadt Mannheim, das Land Baden-Württemberg und ebenfalls das Programm „Neustart Kultur“.

Auch diese drei Stücke haben etwas mit EURODRAM zu tun: Sie waren oder sind Bestandteile der Leseliste und/oder fanden den Weg in eine Shortlist. Hier zeigt sich die außerordentlich fruchtbare Zusammenarbeit zwischen dem Theaterhaus G7 und dem deutschsprachigen Komitee, was Inka Neubert und Pascal Wieand (beide Theaterleitung und Geschäftsführung) bei den Einführungen zu den Lesungen betonten. Das deutschsprachige Komitee dankt ihnen an dieser Stelle von Herzen. Was wären wir ohne euch?

Die Autor*innen Raphaela Bardutzky, Rike Reiniger, Akın Emanuel Şipal, Emilie Leconte und zwei ihrer Übersetzer*innen, Aleksandra Lukoszek (Polnisch) und Heinz Schwarzinger (Französisch) waren bei den Lesungen anwesend und haben sich dort zum Teil das erste Mal persönlich gesehen. Dmitri Danilow und María Velasco waren über Zoom zugeschaltet.

Die sechs Regisseur*innen Inka Neubert, Aurélie Julia, Jana Nerz, Pascal Wieandt, Milica Cortanovacki und Philippe Mainz waren da und natürlich die Schauspieler*innen Mirjam Birkl, Moritz Hahn, Sina Peris, Vincenzo Tatti, Thore Baumgarten, Thomas Cermak, Vivien Zisack, Julija Komerloh, Marie Scholz, Mounir Saidi, Katharina Pauls, Bernadette Evangeline Schlottbohm, Johanna Witthalm, Oliver Dawid, Maximilian Wex, Aurélie Youlia (Reihenfolge der Stücke). Linda Johnke und Marcela Snášelová (Ausstattung und Kostüm) schufen Voraussetzungen. Elisa Berdica hat professionell fotografiert.

Gedolmetscht haben Galina Franzen (Russisch), Wolfgang Barth (Französisch)  und Sabine Giersberg (Spanisch).

Ein Novum war die Moderation der Diskussionen durch namhafte, beinahe ausschließlich externe Dramaturg*innen: Sascha Hargesheimer (Nationaltheater Mannheim), Philipp Bode (Theaterhaus G7), Nazli  Saremi (Nationaltheater Mannheim), Udo Eidinger (Theater Erlangen), Maria Schneider (Theater Heidelberg), Miriam Fehlker (Theater Baden-Baden).

Die folgende PDF-Datei zeigt das Programm des Gesamtprojektes. Sie können ihm entnehmen, dass Joshua Nerz (Technische Leitung), Tom Steyer (Technik) und Robert Kammerer (Assistenz) wesentlich zum Gelingen beitrugen, erfahren, wer für Künstlerische Leitung, Organisation und EURODRAM-Koordination zuständig war, und einiges mehr.

Die Zusammenarbeit so vieler Menschen für das Theater, ihre Anwesenheit in Mannheim, ihre Persönlichkeit, besonders aber der Geist des Theaterhauses G7 und seines Publikums haben dieses Theaterwochenende zu einem unvergesslichen Ereignis gemacht.

Wolfgang Barth

Für jedes Theaterstück enthält das Programm Zusammenfassungen. Sie können es herunterladen oder direkt hier scrollen und verkleinern/vergrößern.

Szenische Lesung Dmitri Danilow, Der Mann aus Podolsk, aus dem Russischen von Elina Finkel

Die Musik zu den Tanzszenen "Chicago Seven - Kak dela Normal'no" ist auf einigen YouTube-Kanälen gesperrt. Text auf Deutsch: Wie geht's dir? Normal / Normal gibt es nicht / Uns geht's normal, wirklich nicht real [...] / Wirklich nicht real / Wirklich nicht real [...].

Ein russisches Theaterstück in einer szenischen Lesung?

Theater findet nicht im luftleeren Raum oder im Elfenbeinturm statt, sondern in einem konkreten politischen und gesellschaftlichen Kontext. Täglich fallen dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine Menschen zum Opfer. Kann man in dieser Situation die szenische Lesung eines russischen Theaterstückes durchführen?

Das europäische Netzwerk für Theater in Übersetzung EURODRAM umfasst an die dreißig nach Sprachen organisierte Lese- und Bewertungskomitees in Europa und dem angrenzenden Raum. Darunter ein ukrainisches und ein russisches.

Auch das deutschsprachige Komitee nimmt für die Auswahl 2023, die wir zurzeit vorbereiten, ukrainischsprachige und russischsprachige, ins Deutsche übersetzte Stücke an. Wir bewerten sie nach ihrer künstlerischen Qualität und dem Gewicht ihres Inhalts. Wir sehen aber auch ihre Haltung gegenüber der Demokratie und den Menschenrechten. Die Förderung eines den Angriffskrieg verherrlichenden oder das gegenwärtige politische System Russlands unterstützenden Stückes oder einer/eines diese Ziele vertretenden Autorin oder Autors käme für uns nicht in Frage. Wir sind mit den ukrainischen und russischen Autor*innen solidarisch, die sich in ihren Werken gegen die Aggression erheben.

Ein Stück von vornherein auszuschließen, weil Autor*in oder Übersetzer*in russisch sind oder russisch sprechen, wäre fatal. Viele von ihnen leben im Exil und tragen mit ihren Stücken und Übersetzungen zur Verteidigung und Etablierung demokratischer Rechte bei. Sie sind selbst Opfer des politischen Systems. Ihre Stimmen dürfen nicht zum Schweigen gebracht werden. Auch die der noch im Lande lebenden Schriftsteller*innen nicht, denen dies dort widerfährt, wenn sie, in dieser Weise beschädigt, überhaupt noch zu uns durchdringen.

Dies zur Entscheidung des Theaterhauses G7, das Stück DER MANN AUS PODOLSK von Dmitri Danilow in einer szenischen Lesung vorzustellen.

Galina Franzen, Mitglied des deutschsprachigen Komitees, deren Familie zum Teil noch in Russland lebt, die bei der Diskussion nach der Lesung des Stückes für den Autor gedolmetscht hat und ihn in Moskau besuchte, hat hierzu etwas zu sagen.

Wolfgang Barth

Für Inka Neubert, mit der ich sprach, Regisseurin der szenischen Lesung und als Künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin des Theaterhauses G7 Gastgeberin für die Lesungen in Mannheim, stellte sich die Frage, ob es derzeit generell problematisch sei, ein russisches Stück zu inszenieren, nicht. Für „Stück für Stück“ hatte sie neben der Auswahl 2022 des deutschsprachigen Komitees EURODRAM sehr viele Stücke gelesen, eine große Menge Material gesichtet. Die Herkunft des Autors habe dabei keine Rolle gespielt (siehe hierzu Inkas Aussage weiter unten).

Ist das Stück „Mann aus Podolsk“ nur in einem konkreten politischem Kontext zu sehen? Oder geht es um den Menschen unabhängig vom Land und dessen politischem System ? Sprechen wir von Willkür in einem autoritären Staat oder von einem Menschen, dessen Leben in Gewohnheiten erstarrt ist, der studiert, was ihn gar nicht interessiert, der einen Job macht, den er nicht mag, dem der Ort, in dem er lebt, egal ist? Handelt es sich um einen Russen oder einen Deutschen, Franzosen oder Amerikaner?

Für Rike Reiniger (Autorin von „Risse in den Wörtern“), die diese Fragen bei der Diskussion stellte, stand weniger das politische System im Vordergrund als der Mensch. Dmitrij Danilow war ihr per Zoom dankbar für diese Gewichtung seiner Message. Er habe von der Hilflosigkeit eines Menschen gegenüber seinen Lebensumständen erzählen wollen, von der freiwilligen Hinnahme des öden, farblosen Charakters seiner Lebensgestaltung. Dies sei eine universale Thematik, die für jeden Menschen Bedeutung erlangen könne.

Wie empfindet es ein Autor, wenn sein Text in einer anderen Sprache, unter fremdem Himmel in einem anderen Land inszeniert wird? Ist es ein Problem, dass Regisseur*innen, Dramatiker*innen, Darsteller*innen auch im übertragenen Sinne nicht immer die gleiche Sprache sprechen? Hat man als Autor ein Problem damit? Ist Dmitrij mit der Übersetzung seines Stückes „Der Mann aus Podolsk“ und der Übertragung auf die Bühne des Theaterhauses G7 in Mannheim einverstanden?

Dmitrij erzählte, er gehöre nicht zu den Autoren, die eifersüchtig eine Inszenierung verfolgen und sogar um einen Kratzer am Hals einer Schauspielerin mit einem Regisseur streiten können. Er sei immer froh, wenn seine Stücke weltweit gezeigt würden und Menschen verschiedener Kulturen seine Texte umsetzten. Im Gegenteil sei es für ihn eine spannende Erfahrung zu erleben, wie kreative Menschen anderer Länder seine Stücke lesen und interpretieren. Schade sei jedoch, dass er bei der Aufführung nicht live habe zuschauen können, besonders jetzt sei dies fast unmöglich geworden. Er sehne sich sehr nach einer solchen Möglichkeit. Die Menschen aus den Kulturbereichen der ganzen Welt müssten zusammenhalten und sich unterstützen. Dies sei seine große Hoffnung. 

Galina Franzen

Wenn ich Stücke lese, müssen sie mich persönlich berühren, damit ich sie interessant finde. Bei Danilow kommt neben der politischen Relevanz des Themas ein skurriler, absurder Witz dazu, der mich sofort angesprochen hat. Eine Situation herzustellen, die so offenbar jeder Realität widerspricht, gelingt dort sehr gut. Für mich ist tatsächlich erst einmal wichtig, ob mich der Text als solcher interessiert. Alles andere kommt danach.

Inka Neubert

Sina Peris, Vincenzo Tatti, Miriam Birkl, Moritz Hahn
Sascha Hergesheimer (Moderation, Nationaltheater Mannheim), Inka Neubert (Einrichtung), Galina Klimowa (Dolmetscherin) bei der Diskussion mit dem per Zoom zugeschalteten Autor Dmitri Danilow.

Lesung Raphaela Bardutzky, Fischer Fritz (EURODRAM AUSWAHL)

Infos: Heinz Schwarzinger zum Stück   Info Raphaela Bardutzky, Fischer Fritz
Foto © Timm Burkhardt; Raphaela Bardutzky, Autorin, Aleksandra Lukoszek, Übersetzerin Polnisch (rechts), Heinz Schwarzinger, Übersetzer Französisch (links).

Das Bild als Illustration des Stückes selbst: Die Autorin ist da, Aleksandra ist Piotra (sie gibt ihr im Stück die polnische Sprache), Heinz ist Fischer Fritz ("Wir haben so einiges gemeinsam. Und nicht nur das Beste.")

Dank Eurodram, dem europäischen Netzwerk für Theater in Übersetzung, habe ich das große Glück, dass mein Stück „Fischer Fritz“ inzwischen auf Französisch und Polnisch vorliegt – obwohl ich diesen Riesenzungenbrecher eigentlich für völlig unübersetzbar hielt.

Heinz Schwarzinger, der den Text ins Französische übertragen hat, sowie Aleksandra Lukoszek, die auf Polnisch übersetzt hat, haben mich aber eines Besseren belehrt.

Jetzt durfte ich diese zwei Sprachkünstler*innen endlich persönlich treffen, bei „Stück für Stück“ amTheaterhaus G7 in Mannheim. Wie happy kann eine Autorin sein?

Raphaela Bardutzky

Thore Baumgarten, Vivien Zisack, Thomas Cermak
Philipp Bode (Moderation, Theaterhaus G7), Raphaela Bardutzky (Autorin), Aurélie Youlia (Einrichtung)

Bei der Diskussion nach der Lesung nahm Raffaela Bardutzky Stellung zur Frage, ob für sie beim Schreiben die Erwartungshaltung des Publikums einen hohen Stellenwert hatte. Raphaela erklärte, dass sie den gesamten Text aus einem einzigen, sehr bekannten Zungenbrecher heraus etwickelt habe („Fischer Fritz…“). Der sprachliche, künstlerische Aspekt habe bei der Gestaltung des Stückes stets eine Rolle gespielt. Ola (Aleksandra) und sie hätten sich dem Problem stellen müssen, dass es für polnische Zungenbrecher kein direktes Äquivalent im Deutschen (und umgekehrt) gebe und sie von daher schwer oder gar nicht zu übersetzen seien. Das Stück setzte also an einem dem Publikum sehr bekannten Phänomen an, das im Stück durchgängig auftauche.

Lesung Akın Emanuel Şipal, Mutter Vater Land (EURODRAM AUSWAHL)

Info: Autor und Stück  Interview mit Akın Emanuel Şipal über sein Stück und das Übersetzen
Marie Scholz, Thomas Cermak, Mounir Saidi, Thore Baumgarten, Julja Komerloh
Dias: Akın Emanuel Şipal entspannt im Foyer und beim Gespräch mit dem Publikum (rechts oder links scrollen).
Nazli Saremi (Nationaltheater Mannheim, Moderation), Autor Akın Emanuel Şipal, Jana Nerz (Einrichtung)

Akın Emanuel Şipal lobte in der Diskussion die große Empathie der Schauspieler*innen, die zur lebendigen und zutreffenden Darstellung der Charaktere und Handlungen seines Stückes geführt hätten, und nahm Stellung insbesondere zu dessen autobiographischen Aspekten. Es gehe aber darüber hinaus „um ein tieferes Verständnis der türkisch-deutschen Beziehungen […], also die tief verankerte Rivalität mit und Angst vor den Osmanen, die prägend war und irgendwo unterschwellig vielleicht noch wirkt…, den ‚akademischen Austausch‘, also die Flucht jüdischer Akademiker in die junge türkische Republik, aber auch die Flucht eines Nazis nach Istandbul nach dem 2. Weltkrieg (Gerhard Fricke).“

Thema war auch die Frage nach der küntlerischen Freiheit, zu der Akın am Beispiel der Entstehung des vorgestellten Stückes Stellung nahm:

Ich schreibe nicht, was ich möchte, sondern schreibe, was ich schreiben kann, was sich schreibt… dass ich nicht gedacht habe, jetzt schreibe ich aber mal Dialoge… dass es da keine Entscheidung gab, sondern die Dialoge sich einfach anboten, der Inhalt hat sich mir in den Dialogen präsentiert… dieses gleichzeitige Auftreten von Form und Inhalt, ein Segen.

Akın Emanuel Şipal

Szenische Lesung María Velasco, Ich will die Menschen ausroden von der Erde, aus dem Spanischen von Franziska Muche

Pascal Wieand (Einrichtung), Udo Eidinger (Moderation, Theater Erlangen) und Sabine Giersberg (Dolmetscherin Spanisch) bei der Diskussion mit der per Zoom zugeschalteten Autorin María Velasco.
Beeindruckende Ausstattung von Marcela Snášelová.
Johanna Withalm, Bernadette Evangelina Schlottbohm, Katharina Pauls

Für eine Freundin als Dolmetscherin eingesprungen, war ich bei der Vorbereitung schon beim Titel ‚Ich will die Menschen ausroden von der Erde‘ am Haken und in der Folge fasziniert von dem ungeheuer dichten, wirkmächtigen Text. Richtig gepackt hat er mich dann in der Inszenierung auf der Bühne, als das Wortgewitter in Gestalt von drei starken Frauen erlebbar wurde. Ein schonungsloser Text, der bewegt, aufwühlt, schockiert, durch den allgegenwärtigen Humor und den versöhnlichen Schluss aber auch etwas Befreiendes hat.

Sabine Giersberg, Übersetzerin

Lesung Emilie Leconte, Bertrand fällt aus, aus dem Französischen von Wolfgang Barth

Aurélie Youlia,Vincezo Tatti, Marie Scholz, Oliver David (liegend); Bertrand kann zwar nicht mehr aufstehen, produziert aber Konfetti, weil "niemand sicher sein kann, dass nicht plötzlich etwas Schönes passiert".
Milica Cortanovacki (Einrichtung), Maria Schneider (Moderation,Theater Heidelberg), Autorin Emilie Laconte, Wolfgang Barth (Übersetzer des Stückes und Dolmetscher bei der Diskussion).

In der Diskussion erläuterte Emilie Leconte, dass bei ihrem Stück die eigentliche Aussage nicht in dem liege, was Bertrand, der Protagonist, und andere Personen sagten, sonder vielmehr in dem, was sich im Umgang mit ihren Fällen durch Instanzen der Gesellschaft zeige, also eher zwischen den Zeilen, im nicht Gesagten. Ihre Stücke stünden in der Tradition des absurden Theaters (Ionesco, Beckett, besonders auch Gombrowitz, dessen Protagonistin in „Yvonne, die Burgunderprozessin“ sehr viel mit Bertrand gemeinsam habe), und dies müsse sich in Inszenierungen zeigen. Die Schauspieler*innen seien im wörtlichen Sinne typisierte „Rollenträger“, nicht imitierende Darsteller natürlicher Verhaltensweisen und Vorgänge.

[Übersetzung des folgenden Textes von Wolfgang Barth]

Das Theaterhaus trägt seinen Namen zu Recht, man fühlt sich hier sofort wie zu Hause, auch wenn ich als Französin nicht alles verstehe, was dort gesprochen wird. Die Atmosphäre ist besonders sanft, einladend und warmherzig. Der Theaterraum ist so konzipiert, dass man sich sowohl den Schauspielern als auch den anderen Zuschauern nahe fühlt.

Als ich den Saal zur Lesung betrat, war der Boden mit Konfetti übersät, wie ich es mir beim Schreiben des Stücks vorgestellt hatte. Ich hatte eine Tischlesung erwartet und entdeckte zu meiner Freude eine räumliche Umsetzung, die für die Zuschauer ein starkes Bild ergab: Bertrand in der Mitte, zahlreiche Personen drängen sich um den Tisch, auf dem er liegt, und setzen sich mit dem Unerklärlichen auseinander.

Ich spreche nicht Deutsch, aber nehme dennoch den Sprach- und Spielrhythmus der Schaupielerinnen wahr, der mir gefällt und sehr passend erscheint.

Manchmal lachen die Zuschauer und ich versuche dann, die zugrundeliegende Zeile des Originals zu erfassen. Es gelingt mir nicht immer, aber darauf kommt es nicht an. Eines meiner Stücke in einer Sprache zu sehen, die ich nicht verstehe, ist für mich beeindruckend und bewegend. Ich löse mich vom Text und beobachte ausnahmsweise einmal alles andere…

Nun habe ich das Theaterhaus verlassen und kehre nach Paris zurück. Noch immer aber stehe ich unter dem Zauber dieses Ortes, dessen Engagement für die Autoren*innen so wertvoll ist, und diesen schönen Theaterbegegnungen.

Emilie Leconte

Szenische Lesung Rike Reiniger, Risse in den Wörtern (EURODRAM AUSWAHL)

Moritz Hahn als Sascha in einer außergewöhnlichen Einzelrolle.
Info: Autorin und Stück    Maxi Obexer über Rike Reiniger    Blažena Radas über Rike Reiniger
Auf dem Weg zur Untersuchungskommission der Bundeswehr tauchte Moritz Hahn bereits im Foyer auf.
Miriam Fehlker (Moderation, Theater Baden-Baden), Autorin Rike Reiniger, Philippe Mainz (Einrichtung) bei der Diskussion.

In einer Zeit, in der in der Ukraine und an anderen Stellen der Welt der Kriegt tobt und man sich fast schon daran gewöhnt hat, erscheint die von Moritz Hahn so eindringlich vorgetragene Geschichte des Soldaten Sascha, der sich wegen „schwerer Dienstrpflichtverletzung“ in Afghanistan verantworten muss, von besonderer Bedeutung. Wie sein literarisches Vorbild Edlef Köppen („Heeresbericht“), Veteran des Ersten Weltkrieges, soll auch er als verrückt erklärt werden.

Rike Reiniger schreibt in der Bahn auf dem Rückweg von der Lesung nach Hause spontan hierzu:

„Abdul. Vielleicht hieß er Abdul. „, sagt Sascha, der Soldat, und Moritz Hahn als Schauspieler fokussiert den Lichtkegel auf dem blanken Bühnenboden. Dazu hören wir Sätze aus den Boxen, deren Sinn nicht zu verstehen ist. Der tote Taliban-Kämpfer fehlt in dem Lichtkegel, wir kennen ihn nicht, werden ihn nie kennenlernen. Die Sätze der Personen, die sich für so normal halten, dass sie Sascha für verrückt erklären können, verstehen wir nicht, weil sie nicht zu verstehen sind. Es sind gerade diese Leerstellen, die meinem Stücktext über den unentwirrbaren Knoten, in dem ein Soldat in Afghanistan feststeckt, so viel hinzufügen, dass ich ihn in der Inszenierung von Philippe Mainz neu entdecke. Vielen Dank dafür!
RR

Seele des Theaterhauses G7: Künstlerische Leiter*in und Geschäftsführer*in Inka Neubert und Pascal Wieandt.

Das deutschsprachige Komitee EURODRAM bedankt sich herzlich bei allen Beteiligten und besonders beim DEUTSCHEN LITERATURFONDS, der die Lesung der Stücke der Auswahl durch seine Förderung mit dem Programm NEUSTART KULTUR ermöglicht hat.

Auswahl 2022: Liste der Übersetzungen und Übersetzungsförderungen

RAPHAELA BARDUTZKY, FISCHER FRITZ

Übersetzung polnische Textteile [im Original; Hinweis W.B.]: Aleksandra Lukoszek. Kiepenheuer Bühnenvertrieb Berlin-Dahlem; UA am 18. Juni 2022 am Deutschen Theater Berlin durch das Schauspiel Leipzig

Übersetzung ins Polnische: Aleksandra Lukoszek (aleksandra.lukoszek@gmx.de)
Übersetzung abgeschlossen. Förderung durch das Goethe-Institut

Übersetzung ins Französische: Heinz Schwarzinger (schwarzinger.heinz@gmail.com)
Übersetzung abgeschlossen. Förderung auf eigene Initiative durch die MAV (Maison Antoine Vitez)

RIKE REINIGER, RISSE IN DEN WÖRTERN

Theaterstückverlag München. UA 25.10.2018 Theater der Altmark Stendal; Buchfassung KLAK Verlag Berlin 2018

Übersetzung ins Französische: Nicole Desjardins (damedesjardins@gmail.com
Übersetzung abgeschlossen (Dezember 2022).

AKIN EMANUEL ŞIPAL, MUTTER VATER LAND

Suhrkamp Verlag AG Berlin, UA 17.06.2021 Theater Bremen

Übersetzung ins Tschechische: Viktorie Knotkova viktorie_knotkova@yahoo.com)
Übersetzung in Arbeit. Förderung durch das Goethe-Institut

Übersetzung ins Französische: Renaud Guinaudeau (renaud.guinaudeau@hotmail.fr)
Übersetzung in Arbeit.

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Maxi Obexer über Rike Reiniger, Risse in den Wörtern

Info Rike Reiniger, Risse in den Wörtern
Blažena Radas zu Rike Reiniger, Risse in den Wörtern
Der Text basiert auf einem Gespräch, das Maxi Obexer und Rike Reiniger geführt haben.

Wir wissen wenig von den Einsätzen der Bundeswehr, von den Aufträgen und von den Zielen in den Krisen- und Kriegsländern. Wer sind die Leute, die sich verpflichten – oder anstellen lassen, was sind ihre Motive? Und welche Ordnungs- und Herrschaftsstrukturen finden sie vor?

In den vielen Gesprächen, die Rike Reiniger mit Einsatzkräften der Bundeswehr geführt hat, äußert sich der dringende Wunsch, weit mehr von ihren Einsätzen zu vermitteln, um uns künftig ein besseres Urteil erlauben zu können.

Denn, so Rike Reiniger, es sollte fester Bestandteil für den demokratischen Meinungsbildungsprozess sein, Bescheid zu wissen über die Verteidigungsmacht der deutschen Bundesrepublik, schließlich sind wir die Auftraggeber.

In ihrem Stück geht es um den Einsatz in Afghanistan.

Das Stück „Risse in den Wörtern“ – besticht in seiner klaren Form: es ist ein Gerichtsprozess, der gegen einen Angeklagten Sasha geführt wird, der die Dienstvorschriften missachtet hat und nun zur Rede gestellt wird. Das Gericht – diejenigen, die urteilen und richten, sind wir – das Publikum.

 Dies erinnert an die antike Tragödie, an die ursprüngliche Funktion eines politischen Theaterstücks, es geht um die Verantwortlichkeit aller – auch dann, und besonders dann, wenn es um den einzelnen, um das Individuum geht. Um die Bedingungen der Möglichkeit, ein Individuum zu sein.

Ein weiteres Motiv aus der griechischen Tragödie greift Rike Reiniger auf, es wird zum zentralen Verhandlungspunkt: Der Angeklagte hat gegen die Vorschrift einen Menschen beerdigt, der zum feindlichen Lager gehört. Wie in der „Antigone“ von Sophokles sollte der ausgemachte Feind – hier es ist ein Taliban, nicht beerdigt werden. Dies verkündet der Ortsvorsteher, ein Vertrauter der Bundeswehr, und diese hält sich an dessen Entscheidung. Schließlich geht es um Verbündete, die einander brauchen – die einen zum Schutz, der andere zur Machtdemonstration. Alle sind sie verstrickt, in einem Krieg fallen die klaren Linien zwischen Gut und Böse; die Zuweisung in Lager impliziert die Preisgabe der Moral. Vergessen wird das Menschliche und der einzelne Mensch. Sasha macht den Fehler, dass er sich mit dem getöteten Taliban identifiziert, dass er ihn als Einzelnen ausmacht und feststellt, wie sehr er ihm ähnlich sieht. Und er befragt den Toten als Menschen, fragt nach seinen Angehörigen, fragt sich, was ihn in diesen Krieg gebracht hat. Schließlich tut er das, was auch mit seinem toten Kameraden aus dem deutschen Lager getan wurde: Mit dem spärlichen Wasser, das er noch hat, wäscht er ihm das Gesicht.

Den Fall in Afghanistan stellt Reiniger in einen historischen Rahmen, in ihre Auseinandersetzung mit Edlef Köppen und seinen Aufzeichnungen in dem Buch: „Der Heeresbericht“. Edlef Köppen und sein Buch bezeugen seinen Wandel im Ersten Weltkrieg, als dieser als freiwilliger Soldat und später Offizier später zur Einsicht kommt, dass er nicht mehr kann, dass er nicht mehr will, dass er nach all dem, was er erfahren und gesehen hat, nicht mehr in diesen Krieg gehen kann. Er verweigert, wird vors Kriegsgericht gestellt und schließlich als Verrückter in die Nervenheilanstalt überwiesen. Auch hier ergibt sich eine Analogie: Für verrückt erklärt – und damit pathologisiert, wird auch das Verhalten von Sasha.

Es gibt etliche Analogien, und die führen zu dem, was für Rike Reiniger der wesentliche Punkt ihrer Auseinandersetzung ist.

Mit dem historischen Bericht von Edlef Köppen aus dem ersten Weltkrieg rückt Reiniger ein durchgängiges Motiv in ein Kontinuum des Krieges: Es geht um die Auslöschung des Einzelnen für ein größeres Ganzes, das gerade dadurch fragwürdig wird. Nur in einem Punkt unterscheidet sich der Veteran Sasha von Edlef Köppen: Sasha ist einer, dem die Sprache fehlt, dem die Wörter fehlen für die moralische Einordnung seiner Gewissensqualen, wie sie Edlef Köppen in seinem Buch beschreibt.

Die Aussagen von Köppen werden zu einer Anwaltschaft für Sasha, vor einer Richterschaft, dem Publikum. Und dieses soll die historische Einordnung in ihrem Urteil mit bedenken.

Deutlich wird zugleich die Gegenwart. Rike Reiniger geht es um die gegenwärtige Situation der Veteranen, in die leuchtet sie hinein. Und hier zeigt sich ein weiteres durchgängiges Motiv bis heute, das Thema der gesellschaftlichen Schichten. In die kriegerischen Konflikte geraten die sozial Schwachen. Es sind oft Menschen aus prekären Verhältnissen und den unterschiedlichsten existenziellen Nöten. Während die anderen über Politik reden, finden diese sich aus ganz anderen Gründen im Schlachtfeld wieder – und mit ihren Gewissensnöten.

Neben der klaren Form beeindruckt das Stück von Rike Reiniger mit einer klaren, sofort eingängigen Sprache, die voller Details ist und die zu den Hintergründen der sogenannten Einsatzkräfte führt: Was sind heute die Bedingungen jener, die in die Bundeswehr gehen? Welche prekären Lebensverhältnisse führen dazu? Die meisten, so legen die vielen Gespräche nahe, tun es aus nicht politischen Gründen. Und meist wissen sie wenig von dem, was sie erwartet, wenig von den Situationen, den Ängsten, den Nöten, mit denen sie  konfrontiert werden. Das Stück ist auch eines über Klassismus und diskriminierende Strukturen aufgrund unterschiedlicher sozialer Positionen.

Das Stück ist im Dokumentarstil geschrieben, mit einer sehr auf die Details, auf die konkrete Situation bedachten, genauen Dramaturgie. Es nutzt zugleich die Möglichkeiten des fiktiven Rahmens, um es in einen größeren Kontext zu stellen.

Das Stück ist das dritte in einer Reihe von zwei anderen, die die Autorin zum Thema „Sozialer Mut“ geschrieben hat. Im ersten schreibt sie über Sophie Scholl, im zweiten über den „Zigeuner“-Boxer Trollmann, 1933 deutscher Meister im Halbschwergewicht, 1944 ermordet im KZ.

Alle drei Stücke sind bedeutsam und sollten, sowohl einzeln als auch als Trilogie, weiterhin auf der Bühne zu sehen sein.

Berlin, 1. November 2022

Maxi Obexer

Foto: © privat
Maxi Obexer, Theaterautorin und Schriftstellerin, wuchs in Südtirol / Italien auf; sie lebt in Berlin. Sie erhielt u.a. den Robert Geisendörfer Preis, den Eurodram-Preis 2016 für „Illegale Helfer“, sowie den Potsdamer Theaterpreis 2017 für „Gehen und Bleiben“. Der Roman "Europas längster Sommer" wurde 2017 für den Bachmannpreis nominiert. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Philosophie und Theaterwissenschaft in Berlin. Gastprofessuren in verschiedenen US-amerikanischen Universitäten, u.a. am Dartmouth College und an der Georgetown-University in Washington. Sie lehrt regelmäßig am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2014 gründete sie das Neue Institut für Dramatisches Schreiben, Nids. Poetik-Preisträgerin der Alice Salomon Hochschule 2023.
www.m-obexer.de

Blažena Radas zu Rike Reiniger, RISSE IN DEN WÖRTERN

Rike Reiniger, Foto © Eva Radünzel-Kitamura
Auswahl 2022 des deutschsprachigen Komitees EURODRAM: Rike Reiniger, Risse in den Wörtern, Theaterstückverlag München, UA 25.10.2018 Theater der Altmark Stendal; Buchfassung KLAK Verlag Berlin 2018
Text Maxi Obexer über Rike Reiniger, Risse in den Wörtern

Der 25jährige Alexander Philippi, genannt Sascha, ist wegen einer Dienstpflichtverletzung suspendiert und steht nun vor dem Publikum, das in diesem Stück zur bewertenden und prüfenden Untersuchungskommission wird. Sascha hat bei seinem Einsatz in Afghanistan einen getöteten Taliban, der auf dem Marktplatz verrotten sollte, heimlich begraben, weil er sich an die Worte der Verteidigungsministerin erinnert hat, daran, dass die Soldaten Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Werte verteidigten. Vor der Kommission soll Sascha das Gefecht beschreiben, in dem sein Freund Paule und der Taliban getötet wurden. „Da steht ein Mensch, schwankt hin und her. Der Mensch hat keinen Kopf mehr. Da, wo der Kopf saß, schießt ein schwarzer Strahl nach vorn. Um Gottes Willen, der Körper steht immer noch, fällt nach vorn, fällt nach hinten, ja um Gottes willen… Der Körper schlägt auf die Erde.“ Die Kommission befindet, diese Schilderung sei unglaubwürdig, sie weiche ab und klinge wie auswendig gelernt. Und tatsächlich hat Rike Reiniger hier Passagen aus dem Antikriegsbuch Heeresbericht von Edlef Köppen über den Ersten Weltkrieg eingebaut. Denn Sascha findet keine eigenen Worte, mit denen er die Bilder in seinem Kopf beschreiben könnte. Die Bilder verweigern sich und geben keine Ruhe, wenn man sie nicht versprachlicht. Die Kommission kommt zu der Entscheidung, dass Sascha alle Symptome einer akuten Belastungsstörung aufweist und somit nicht für eine Dienstpflichtverletzung zur Verantwortung gezogen werden kann.

Worte können Schutz bieten und ein Zuhause: Sascha wähnt sich glücklich, als er sich mit seiner Freundin eine gemeinsame Zukunft ausmalt, mit einem Haus, das sie bunt anstreichen wollen und einem Baby. Auf Julis Frage: „Welches Haus, Sascha?“ antwortet Sascha mit Edlef Köppen: Vier Mauern und ein Dach. Und man könnte hinzufügen: Mit soliden, festen Wörtern ohne Risse, mit Wörtern, die sich mit der Realität decken.

Die Beschaffenheit der Wörter verändert sich in diesem sprachlich kompakten und zuweilen tragisch-poetischen Stück, sie werden auf der einen Seite zusehends brüchiger und bröseliger, auf der anderen formen sie ein undurchdringliches Bollwerk, das man ebenso wenig ansprechen kann wie die gefühllose Kommission, die ihn bürokratisch und mit kalter Eloquenz krankschreibt und eine stationäre Behandlung anrät. Sascha ist einer, der den Worten zu sehr geglaubt hat und dafür bezahlen muss. Wie sagt sein ehemaliger Chef, der Bosnier Janovec, als er Sascha beim Kaffee zu Afghanistan rät: „Afghanistan ist Ponyhof im Vergleich zu Sarajevo damals. Und? Hat’s mir geschadet?“ Daraufhin schüttet er sich Schnaps in den Kaffee. So subtil und filigran baut Rike Reiniger ihr Stück.

Blažena Radas, Split, 26.10.2022

Foto © Blažena Radas
1967 in Wien geboren. Studierte Slavistik und Germanistik an der Universität in Heidelberg und lehrte deutsche Sprache, Literatur und Film in Heidelberg, Zadar und London.
Lebt seit 2007 als freischaffende Literaturübersetzerin aus dem Bosnischen/Kroatischen und Serbischen in Split und bei Heidelberg.
Seit 2014 Mitglied der Kroatischen Vereinigung freischaffender Künstler HZSU.
Seit 2019 Mitglied des europäischen Netzwerks für Theater in Übersetzung EURODRAM.

Branchentreff Theaterübersetzen am 25.09.2022 im Maxim Gorki Theater Berlin.

Wolfgang Barth, Blažena Radas, Charlotte Bomy am Stand des deutschsprachigen Komitees Eurodram beim "Begegnungsparcours" (siehe Programm). Foto: DÜF

In vielen Gesprächen konnten wir die Arbeit des deutschsprachigen Komitees erklären und Kontakte zu anderen Institutionen und Personen herstellen.

  • Andrea Zagorski (Projektleitung Gegenwartstheater und Übersetzung / Journal beim ITI) bestätigte die voraussichtliche Möglichkeit, die Jahreshauptversammlung 2023 des Netzwerkes, falls sie in Berlin stattfindet, in den Räumen des ITI durchzuführen.
  • Sandra Hetzl und Nora Haak erklärten die besonderen Schwierigkeiten der Theaterübersetzung aus dem Arabischen. Übersetzer*innen verfügen oft über ein klassisches Arabisch. Auf dieser Grundlage vorgenommene Übersetzungen sind in der Regel eher für klassisch arabische Texte geeignet. Für die zeitgenössische Theaterübersetzung sind Kenntnisse regionaler Dialekte und verschiedener regionaler Sprachen notwendig, die man nur über die tägliche Sprachpraxis und das Leben im Land oder im Kontakt mit Muttersprachler*innen erwerben kann, es sei denn, man ist selbst Muttersprachler*in und verfügt gleichzeitig über umfangreiche deutsche Sprachkenntnisse. Die Kombination beider Qualitäten ist selten, bei den Referent*innen aber gegeben. Für das arabischsprachige Komitee EURODRAM ist es wichtig, dies zu wissen (Kontakt über Wolfgang Barth). Übersetzungen von arabischen Theaterstücken ins Deutsche andererseits können beim deutschsprachigen Komitee eingereicht werden (Aufruf). Hier besteht jedoch die Schwierigkeit, dass oft die Übersetzung direkt vom gesprochenen Original auf der arabischsprachigen Bühne für ein deutschsprachiges Theater in der Praxis vorgenommen wird, der Text sich also immer wieder verändert und es nicht immer eine vertretbare schriftliche Gesamtfixierung gibt. Wir ermutigen dennoch, solche Texte für die Auswahl 2023 einzureichen.
  • Blažena Radas führte aus, dass Übersetzungen von Stücken aus Nichtmainstreamsprachen immer seltener bei deutsprachigen Verlagen oder Theatern landen. Einer der Gründe hierfür sei, dass sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf Krisengebiete richte und den literarischen Markt in diesem Sinne orientiere. So etwa verschwand das Interesse an Übersetzungen aus dem Bosnischen, Kroatischen, Montenegrinischen und Serbischen mit dem Ende der Kriege im ehemaligen Jugoslawien und wendet sich jetzt der Ukraine zu. Daraus leitet sich der Gedanke her, das deutschsprachige Komitee könnte die Wahrnehmung weniger im Vordergrund stehender Sprachen durch die Auswahl 2023 oder durch zusätzlich zur Auswahl zu benennende Stücke fördern. Ob dies geschehen soll, bedarf allerdings einer komiteeinternen Diskussion.
  • Beeindruckend war, dass sowohl das Stück von Sybille Berg, „Es sagt mir nichts das sogenannte Draußen“, am Vorabend im Gorki Theater als auch alle Veranstaltungen des Branchentreffs in Gebärdensprache übersetzt wurden. Beim Stück befand sich die Übersetzerin auf der Bühne und spielte direkt mit, auch die Schauspielerinnen benutzten zeitweise Gesten der deutschen Gebärdensprache DGS. Die Beiträge des Branchentreffs wurden simultan von mehrern Übersetzerinnen in beide Richtungen übersetzt. Der Impulsbeitrag von Pia Jendreizik (Schauspielerin, Gebärdenpoetin) und Wera Mahne (Regisseurin) bezog sich u. a. auf die faszinierenden Erfahrungen der Gruppe „Leute wie die“, bei deren Aufführungen taube und hörende Menschen gemeinsam spielen. Die hierzu mitgeteilten Informationen und auch die Erklärungen von Pia Jendreizik zur Problematik der sprachraumübergreifenden Gebärdensprachen sind von zentraler Bedeutung für EURODRAM, da wir an der Konstituierung eines Komitees für Gebärdensprache arbeiten, und wurden bereits an Laetitia Dumont-Lewi, Koordinatorin des italienischsprachigen Komitees, die diese Bemühungen federführend betreut, übermittelt. Weitere Kontakte können über das deutschsprachige Komitee hergestellt werden.
  • Die auf unserer Homepage vorgestellte Übersetzung der Stücke PLATIN/UNISONO von Abke Haring aus dem Niederländischen ins Deutsche von Christine Bais war in einer beeindruckenden AUDIOINSTALLATION zu hören (siehe Programm).
In Vorbereitung des Branchentreffs hat Charlotte Bomy eine Visitenkarte im Postkartenformat herstellen lassen, die uns ab jetzt zur Verfügung steht.
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EURODRAM, German Language Committee, CALL 2023 : Documents required

[German version]
Translation: Pauline Wick / Blažena Radas

Eurodram Selection 2023

Documents required for the submission of a translated play to the German Language Committee (Wolfgang Barth, vieuxloup@t-online.de):

The translated play in its German version (as a PDF or Word document)

A separate document (you can just copy-paste the form below, fill it out, print it out, sign it, scan it as a PDF and send it to the email address listed above) with the following information:

Title of the play (original and translated title): xxx
Playwright and playwright’s contact details: xxx
Translator and translator’s contact details: xxx
Source language: xxx
Place and time of writing: xxx
Place and time of translation: xxx

Short summary (approx. 5 – 10 lines)
Short introduction to the playwright and his/her previous work
Short introduction to the translator and his/her previous work

If applicable:

Publishing house: xxx
Place and time of the publication of the translation: xxx
Readings, premiere, productions of the translation: xxx
Funding or awards received for the translation: xxx
Already translated into other languages: xxx

Signed declaration (playwright/translator/publisher, if applicable):

As the owner of the rights, I (we) hereby permit that the translation of the play xxx may be passed on within the German-speaking committee to decide on the Eurodram 2023 selection. It may be used free of charge for readings within Eurodram events.

Place, Date                                                           Signature/Role

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CALL 2023 FOR SUBMISSION OF SCRIPTS TRANSLATED INTO GERMAN – DEADLINE: 31th December 2022

[German version]
Translation: Pauline Wick, Blažena Radas

EURODRAM is a European network for drama in translation [1] aiming to promote exchange between translators, writers and the European theatre scene.

In 2022/23, the GERMAN LANGUAGE COMMITTEE will be accepting plays that have been translated into German.

The original script language can either be a European language, a language from the Mediterranean or a language from Central Asia. [2]

We are looking for contemporary translations, meaning the translation cannot be more than 5 years old. Please note that we will not accept translations that have already been submitted in previous years. The deadline for 2022/23 is the 31st of December 2022.

Who is eligible? Writers, translators and publishers are entitled to make submissions. Writers and publishers may submit one text only, while translators are allowed to submit one text per writer.

In submitting a translation, authors, translators and – if applicable – publishers agree that the translation may be passed on within the committee to help decide on this year’s selection. They also have to agree that the translation may be used free of charge for readings in connection with EURODRAM events. All this information as well as other necessary details are included in the document you can access via the link Documents.

The GERMAN LANGUAGE COMITTEE selects three texts from the submissions and publishes its selection on the 21st March 2023.

Through readings and discussions, EURODRAM intends to present the plays to the public – ideally with the writers and translators present. In the past, those events have been realised in cooperation with a variety of theatres in Germany and Austria, such as the Theaterhaus G7 in Mannheim, Theatre Drachengasse Vienna, Schauspiel Leipzig, the National Theatre Mannheim and the GERMAN National Theatre of Weimar, DNT (Kunstfest Weimar). We are working with Dramatiker/innenfestival Graz for presentation in 2023 (sponsorship presupposed).

We will propose the translators who win the selection to work on further translations into German of plays written in their language. Additionally, we try to arrange funding/scholarships for those translation projects.

Please send your text with the required documents to Wolfgang Barth, member of the coordination team of the German Language Committee, at vieuxloup@t-online.de.

The deadline for submissions is the 31st December 2022.

Plays that were originally written in German and have been translated into one of the other languages represented within the network may be submitted to the committee coordinator of the respective target language. Procedures and dates of the individual committees may differ. [3]

[1] European non-profit association (“association sans but lucratif” – ASBL) ; Luxembourg Business Registers Nr. F11931 ;
Statutes : http://eurodram.org/wp-content/uploads/2019/09/Eurodram-2019-statutes.pdf

[2] Texts written in a variety of an original European language spoken on other continents (American, Australian or Indian English, Central and South American Spanish or Portuguese, etc.) can unfortunately not be considered.

[3] For more information: http://eurodram.org/user-notice/  . Contact: http://eurodram.org/contact/

Aufruf 2023: notwendige Unterlagen

[English version]

Eurodram-Auswahl 2023

Zur Einsendung der Übersetzung eines Stückes an das deutschsprachige Komitee (Wolfgang Barth, vieuxloup@t-online.de) notwendige Unterlagen:

Das Stück in deutscher Übersetzung (PDF- oder Word-Format)

Zusätzlich auf gesondertem Blatt [z. B. dieses Blatt einfach in eine Word-Datei oder ein anderes Schreibprogramm kopieren oder als Word-Datei herunterladen (siehe Ende der Seite), ausdrucken, ausfüllen und unterschreiben, als PDF einscannen und an o.g. Adresse schicken]:

Titel des Stückes (Original und Übersetzung): xxx
Autor*in mit Kontaktdaten: xxx
Übersetzer/in mit Kontaktdaten: xxx
Ursprungssprache: xxx
Ort und Zeitpunkt der Abfassung: xxx
Ort und Zeitpunkt der Übersetzung: xxx

Kurze Inhaltszusammenfassung (ca.5 bis ca. 10 Zeilen)

Kurze Vorstellung der/des  Autor*in und der bisherigen Arbeit

Kurze Vorstellung der/des Übersetzer*in und der bisherigen Arbeit

Gegebenenfalls:

Verlag: xxx
Ort und Zeitpunkt der Veröffentlichung der Übersetzung: xxx
Lesungen, Uraufführung, Aufführungen der Übersetzung: xxx
Förderungen, Preise der Übersetzung: xxx
Bereits vorliegende Übersetzungen in andere Sprachen: xxx

Unterschriebene Erklärung (Autor*in / Übersetzer*in / ggf. Verlag oder andere):

Hiermit erlaube ich als Rechteinhaber*in, dass die Übersetzung des Stückes xxx zur Ermittlung der Auswahl Eurodram 2023 innerhalb des deutschsprachigen Komitees weitergegeben werden darf. Sie darf für Lesungen im Rahmen von Eurodram-Veranstaltungen kostenlos verwendet werden.

Ort, Datum                                                                  Unterschrift / Funktion

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„Diese Figuren von der Leine lassen“: Akın Emanuel Şipal zu seinem Stück Mutter Vater Land

Akın Emanuel Şipal  Foto © Anna Christina Schütz

Ein Interview mit Catherine Mazellier-Lajarrige

Im Interview [Info CMJ s. u.] spricht Akım Emanuel Şipal unter anderem über sein Stück MUTTER VATER LAND, das Übersetzen, die Weitergabe eines immateriellen Erbes von einer Generation zur nächsten, Leitfiguren für seinen künstlerischen Werdegang, die Rezeption türkischer Kultur in Europa und Deutschland, den Einfluss der Sprache auf Fremdbilder, den Blick türkischer Intellektueller auf die deutsche Sprache und Kultur, Zeitsprünge und assoziatives Verfahren in seinem Stück. Die offenen Aussagen geben den Blick auf ganz neue Aspekte von Werk und Autor frei.

Catherine Mazellier-Lajarrige: Ihr Stück Mutter Vater Land wurde vom deutschsprachigen Eurodram-Komitee ausgewählt, das ja die Übersetzung der Auswahl in andere Sprachen fördert. Welchen Stellenwert hat für Sie die Übersetzungsarbeit, die auch Ihre eigene Familiengeschichte prägt?

Akin Şipal: Das Übersetzen hat einen hohen Stellenwert für mich. Mein Großvater war Übersetzer, er hat einen Großteil seines Lebens der Übertragung deutscher Literatur ins Türkische gewidmet. Ich bin mit der Vorstellung aufgewachsen, dass mein Großvater einer „wichtigen“ Tätigkeit nachgeht, sein Schreibtisch, seine Bibliothek, sein asketischer Alltag, der auf konzentriertes Arbeiten ausgelegt war… das alles hat starke Eindrücke bei mir hinterlassen und hing für mich immer mit dieser beinahe heiligen Tätigkeit des Übersetzens zusammen. Das hat mit Sicherheit auch damit zu tun, dass die Türkei ein stark an Europa orientiertes, man könnte auch sagen eurozentristisches Literaturland ist. In türkischen Buchhandlungen findet man neben türkischsprachiger Literatur vor allem Übersetzungen englischer, französischer, russischer, spanischer und deutscher Literatur… Dementsprechend groß ist die Anerkennung, die Übersetzer*innen entgegengebracht wird, die aus diesen genannten Sprachen ins Türkische übersetzen. Womit ich nicht sagen will, die Lebens- oder Arbeitsbedingungen türkischer Übersetzer*innen seien optimal. Die wenigsten können davon leben, für die meisten Übersetzer*innen ist es ein Luxus, den man sich leisten können muss. Vor allem aber verblendet das Übersetzen Horizonte, es ist eine ungeheuer positive Arbeit, so empfinde ich das zumindest als Nicht-Übersetzer. Das Übersetzen ermöglicht entferntere Bezüge, es lüftet sozusagen Sprachräume. Für die Literaturgeschichte der Türkei bzw. des osmanischen Reiches zum Beispiel spielt das Übersetzen eine wichtige Rolle, da es sich um eine polyglotte Gesellschaft handelte. Mein Respekt vor dem Übersetzen ist jedenfalls so groß, dass ich mir eher zutraue zu schreiben, als zu übersetzen.

CML: Das Thema der Generationen und der Weitergabe eines immateriellen Erbes von einer Generation zur nächsten spielt in Mutter Vater Land, das eine Familiengeschichte über vier Generationen aufrollt, eine große Rolle. Ist das Generationenthema für Sie ein wichtiges Thema?

AŞ: Ja, absolut. Es gibt Erzählungen oder Erfahrungen, die so starke Fliehkräfte haben, dass sie uns unweigerlich beeinflussen und die Familie ist vielleicht das kleinste System, in dem solche Kräfte sichtbar werden. Es ist eben nicht nur wichtig, was man tut, es ist auch wichtig, was sich transportiert, der Transport von Verhaltensmustern oder Ängsten zum Beispiel ist teilweise unabhängig von dem, was wir tun. Eine Person, die Gewalt erfahren hat, muss nicht selber gewalttätig werden, um Gewalterfahrungen zu vererben. Diese Person kann sogar besonders achtsam sein, gewaltfrei kommunizieren und nur das Beste für alle wollen und trotzdem dieses Thema transportieren. Das interessiert mich: Das, was man nicht gestalten kann, was man nicht durchblicken kann. Die Unreinheit und die Unklarheit faszinieren mich, es transportiert sich ja nicht nur ein Thema, sondern ein Zusammenhang von Themen, und wenn wir uns für sie interessieren, bedeutet das ja nicht, dass wir sie verstehen, und vielleicht gibt es da auch nichts zu verstehen, sondern nur zu spüren, zu beobachten und zu interpretieren. Ich spüre jedenfalls diese Wucht von Themen oder Erzählungen in Familien; wir legen vielleicht eine Schicht Individualismus und die Erzählung persönlicher Selbstverwirklichung darüber, aber wie oft verwirklichen wir letztlich Themen, die wir uns nicht ausgesucht haben? Vielleicht ist das aber auch nur Autosuggestion. Dann ist vielleicht Autosuggestion mein Familienthema, haha.

CML: Wurden Sie in Ihrem künstlerischen Werdegang von bestimmten Leitfiguren beeinflusst, und wie ist ggf. diese Vermittlung erfolgt?

AŞ: Ja. Mit 11 oder 12 habe ich in der Stadtbibliothek Ken Burns Dokumentation über den amerikanischen Bürgerkrieg und Fritz Langs „Die Nibelungen“ auf Videokassette ausgeliehen und rauf und runtergeschaut. Ich weiß nicht, was genau es war, was mich daran so fasziniert hat, aber ich habe beides als unglaublich unterhaltsam empfunden. Das Historische hat diese beruhigende, aber stimulierende Qualität: Es ist längst geschehen, erzählerisch, dann auch noch ästhetisiert, schwarz-weiß, es ist durch und durch vermittelt, auf Videokassette sowieso (das Rauschen, die Bildfehler)… Kurzum: Das sind prägende Seherfahrungen, die ich gemacht habe, an die ich mich bewusst erinnere und die einfach mit meinem Interesse für Geschichte korrespondieren. Den Bibliotheksausweis hat mir mein Vater gemacht. Er ist ein großer Freund von Bibliotheken und liebt Fernleihen. Ansonsten sind da natürlich etliche Leitfiguren: Harold Brodkey, sein Stil, seine Themen, Lucia Berlin, ihre Leichtigkeit und Tiefe, Tomris Uyar, ihre Dichte, Céline, die Kraft der „Reise“ und auch „Tod auf Kredit“, Oğuz Atays Einfallsreichtum, George Perec, dieses Katzenhaft-Mathematische seines Schreibens, die Kraft der Stücke von Sivan Ben Yishai … das ist jetzt einfach aus dem Stegreif gesagt, die Adjektive könnte man vermutlich alle untereinander tauschen, jedenfalls sind es Autor*innen, die mich nachhaltig beeindrucken… ich könnte jetzt hier noch eine lange Liste anfertigen. Vielleicht zum Abschluss noch zwei: Pasolini und Brasch, beides Autoren und Filmemacher, auf beide komme ich immer wieder zurück. Pasolinis Werk ist einfach unerschöpflich, für mich ist das eine Grubenlampe; wenn ich nicht weiß wohin, orientiere ich mich daran. Brasch, abgesehen von der Kraft seiner Gedichte, seiner subversiven Energie, scheint unter Erwartungen und Projektionen gelitten zu haben. Unter Erwartungen und Projektionen leiden, da erkenne ich mich auf jeden Fall wieder, haha.

CML: Ihr Stück rehabilitiert ein vergessenes Werk, das Ihres Großvaters. Was könnte erklären, dass die türkische Kultur immer noch partiell rezipiert wird? Hängt es mit einem klischeehaften Fremdbild oder einer eurozentrischen Perspektive zusammen?

AŞ: Hierfür gibt es viele mögliche Erklärungen. In Deutschland zirkuliert in der Breite kein tieferes Wissen über die Türkei und ihre Geschichte. Es ist wie im Schwarzen Meer, 150 Meter unter der Wasseroberfläche gibt es kein Leben mehr. Die Türkei selbst leidet unter den Nachwehen ihres eigenen Eurozentrismus, unter ihrem eigenen Modernismus, der mit Sicherheit auch ein europäisches Erbe ist. Das osmanische Reich war nicht das Paradies auf Erden, aber Nationalismus ist nun wirklich keine osmanische Erfindung, es gibt aber eine türkische Interpretation dieses europäischen Themas. Die Türkei hat sozusagen an der europäischen Geschichte mitgeschrieben. Ich finde, es hilft ohnehin, die Türkei als ein auch europäisches Land zu begreifen. Wenn man aber das eigene kulturelle Erbe so unterdrückt und geringschätzt, wie das die türkische Republik mit der Kultur der Osmanen über viele Jahrzehnte getan hat, dann kommt dieses Erbe zumindest teilweise entstellt, sozusagen als zähnefletschender Bumerang zurück, wie man jetzt an geschichtsklitternden Osmanen-Telenovelas sehen kann. Das Interesse an der Türkei in Deutschland hält sich jedenfalls in Grenzen und natürlich sind da die ganzen historischen Zerrbilder, die sich tief eingeschrieben haben und ihr Übriges tun. Dazu kommt noch, dass Übersetzungen aus dem Türkischen ins Deutsche nicht selten etwas fad und holprig klingen, obwohl Übersetzer*innen nicht selten hervorragende Arbeit leisten. Gibt es hier also so eine Art einseitiger Inkompatibilität? Denn die Übersetzungen aus dem Deutschen ins Türkische lese ich als weniger problematisch. Ich versuche dazu mehr zu erfahren, aber das ist gar nicht so einfach. Gibt es ein grundsätzliches Problem der Übertragung von Literatur agglutinierender Sprachen in indogermanische Sprachen? Ich lese oft türkische Texte im Original als verdichtet, kompakt, musikalisch, im Deutschen werden sie dann breit, umständlich, arhythmisch und manchmal seltsam blumig. Ich hoffe einfach, dass ich mit diesem Eindruck falsch liege.

CML: Wie kann Sprache an solchen Fremdbildern rütteln oder sie unterminieren?

AŞ: Sprache verrät etwas über Schichtzugehörigkeit, Milieu, sie ist Teil unseres Selbstverständnisses: Beiläufig vermitteln wir Zugehörigkeit oder Unzugehörigkeit. Das ist irgendwie doof, es nervt, wenn meine Sprache mich verrät (wenn ich zum Beispiel einen deutschen Akzent habe, aber als Ureinwohner Istanbuls durchgehen möchte), genauso gut kann ich die Sprache verwenden um mich aufzuwerten, eine Zugehörigkeit herzustellen, wo keine ist. Ich könnte meinen deutschen Akzent zum Beispiel übertreiben und umgestalten, einen höheren, nasaleren Ton anschlagen und damit den Ton der Istanbuler High Society nachahmen und hoffen, dass ich vielleicht mit der Behauptung durchkomme, ich sei der Sohn einer Istanbuler Diplomatin, in Istanbul geboren, aber in Washington aufgewachsen oder so. Habitus, Mimesis. Solche Begriffe kommen mir da in den Kopf. Aber die Projektion ist manchmal dann eben doch stärker als die Realität. Mein Deutschlehrer musste erst von meinen Eltern überzeugt werden, dass ich nicht beim Deutsch-als-Zweitsprache-Kurs teilnehmen muss. Er hatte nicht gehört, dass ich perfekt Deutsch spreche, er hat es erst hören können, als meine Eltern sagten: „Wir sind hier um unsere Irritation zu bekunden…“  Wenn meine Eltern zufälligerweise nicht perfekt Deutsch gesprochen hätten, hätte ich meinen Deutschlehrer also erstmal von der Realität überzeugen müssen, die jede unvoreingenommene Person sofort in der Lage gewesen wäre wahrzunehmen.

CML: Das von außen aufgezwungene „Bild des Türken“ sorgt selbst in der Familie für Spannungen und Widersprüche. Ermöglicht eine Dezentrierung, hier z.B. der Blick türkischer Intellektueller auf die deutsche Sprache und Kultur, ein besseres Verständnis der eigenen Geschichte?

AŞ: Gute Frage. Im Stück sehen wir eine türkisch-deutsche Künstler*innen-Familie, das allein ist eine Irritation, weil — das ist zumindest eine These des Stücks — das „Bild des Türken“ der Gegenbegriff zum deutschen Selbstverständnis als Dichter und Denker ist. Ob türkische Intellektuelle uns Deutschen behilflich sein könnten, uns selbst zu verstehen? Vielleicht dahingehend, dass die Kultur der Türkei und ihre Geschichte unweigerlich ein Teil von Deutschland geworden ist. Also ja. Dann ist da aber auch noch diese Desillusionierung und Müdigkeit in mir, die sagt: Nein. Man kann diese Themen bearbeiten, man kann es auch lassen. Es ist ein tragischer Gegenstand, deswegen eignet er sich fürs Theater. „Das Bild des Türken“ gibt es, es ist ein tradiertes Angstbild, das noch heute nachwirkt, aber es geht hier um etwas anderes: um Verlust und den Wunsch nach Anerkennung. Wenn ich darüber nachdenke, warum ich dieses Stück geschrieben habe, komme ich immer zu unterschiedlichen Antworten. Jetzt denke ich: Ich wollte kein besseres Verständnis ermöglichen, ich musste diese Figuren von der Leine lassen. In den Figuren wirken diverse gesellschaftlichen Umbrüche, Konflikte und Erzählungen, sie transportieren sich sozusagen über die Figuren, sie lasten auf ihnen. Darum geht es vielleicht: Die Kraft dieser Erzählungen zu beweisen. Zu beweisen: Es wirken Kräfte auf uns ein, die ganze Zeit. Ganz klar. Es ist ein Stück über meine eigene Unfreiheit: Ich möchte nicht über diese Themen schreiben, aber die Figuren, die zu mir sprechen, leiden unter diesen Kräften.

CML: Die Zeitsprünge und das assoziative Verfahren erlauben Ihnen große Freiheit in der dramatischen Strukturierung des Stückes. Nährt sich diese Schreibweise von Ihrer Filmerfahrung und hängt sie mit Ihrem Interesse für die Spannung zwischen Dokumentarischem und Fiktion zusammen?

AŞ: Ich weiß nicht, inwiefern das mit meinem Interesse für die Spannung zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem zusammenhängt. Es ist vor allem, sehr gut beschrieben, eine Struktur, die große Freiheit erlaubt. Ja, vielleicht hat die Fülle an Material, die vielen Erinnerungen, Notizen, Erfindungen, die sich da in kurzer Zeit angehäuft haben, möglich gemacht, das Stück auf diese Art zu verdichten. Es ist vielleicht eine Form, die eher Brückenschläge erlaubt, zwischen Orten, Zeiten, Familien… Es gibt einerseits Sprünge, andererseits werden Parallelen sichtbar. Es ist eine Form, die sinnlich erfahrbar macht, dass viele Kräfte zeitgleich wirken und sich durchwirken und es ist eine offene Form, sie ist nicht hermetisch. So atmet das Stück, die Figuren kommen zur Geltung, sie müssen keinen Anfang, Mittelteil oder Schluss mit sich mitschleppen. Sie sind unfrei, aber in gewisser Weise frei in der Geschichte und in der Zeit.

CML: Ich danke Ihnen für dieses Interview.

Info Autor und Stück MUTTER VATER LAND

Catherine Mazellier-Lajarrige

Catherine Mazellier-Lajarrige FOTO © Jacques Lajarrige
Dr. Catherine Mazellier-Lajarrige, Mitglied im deutschsprachigen Komitee Eurodram,ist Germanistik-Dozentin an der Universität Toulouse-Jean Jaurès und Übersetzerin (u.a. von Gegenwartsdramatik aus dem deutschsprachigen Raum). Sie leitet die zweisprachige Theaterreihe Nouvelles Scènes beim Verlag PUM.
Info CML
https://creg.univ-tlse2.fr/accueil/membres-de-lequipe/membres-permanents/catherine-mazellier-lajarrige#/

	

Heinz Schwarzinger zu Raphaela Bardutzky, Fischer Fritz

Heinz Schwarzinger (Henri Christophe) Foto © privat
Version française ci-dessous / Französische Version nachfolgend
Zur Vorstellung des Stückes am Theaterhaus G7 in Mannheim.
Heinz Schwarzinger / Henri Christophe, Mitglied des deutschsprachigen Komitees Eurodram, ist ein Übersetzer-Urgestein. Er hat schon 1991 den Österreichischen Staatspreis für literarisches Übersetzen bekommen und ist (u. a.) Herausgeber des Gesamtwerkes von Ödön von Horvath und des Theaters Arthur Schnitzlers in Frankreich. Henri Christophe stellt sich der Herausforderung, FISCHER FRITZ von RAPHAELA BARDUTZKY ins Französische zu übersetzen.

Rechtzeitig vor der Uraufführung des Stückes der Auswahl 2022 des deutschsprachigen Komitees Eurodram am Samstag, 18. Juni 2022 am Deutschen Theater Berlin durch das Schauspiel Leipzig stellt uns Heinz Schwarzinger den folgenden Text zur Verfügung.

Stück und Autorin Raphaela Bardutzky, FISCHER FRITZ

Zusammenfassung

Alles beginnt mit einem klassischen deutschen Zungenbrecher, „Fischers Fritz fischt frische Fische…“. Nur, dass es hier um den Sohn eines Berufsfischers namens Fritz geht, der im hintersten Bayern lebt, aber nach einem Schlaganfall seiner Leidenschaft nicht mehr nachgehen kann. Sein Sohn Franz (weil am Tag des Heiligen Franziskus geboren), ein Friseur in München, der in heikler Beziehung zu seinem Vater steht, schafft es nicht, diesen in einem Altersheim unterzubringen. Einzige Lösung: eine aus Polen importierte junge Pflegerin, die einigermaßen Deutsch spricht. Während der Fahrt im Kleinbus verguckt sie sich in Borys, den Fahrer, mit dem sie im weiteren unzählige SMS austauscht. Piotra kümmert sich gut um Herrn Fritz, hilft ihm, wo sie kann, und bereitet gute Fischgerichte zu. Franz kommt jeden Montag zum Einkaufen und zur Unterhaltung seines Vaters. In diesem heißen Sommer fürchtet Fritz um die Fische im Fluss, der an seinem Garten vorbeifließt, so sehr, dass er eines frühen Morgens aus seinem Bett klettert und mithilfe des Rollators bis zum Wasser geht. Als er den Wasserstand überprüfen will, entgleitet ihm der Rollator und er fällt auf die Betonrampe. Piotra bemerkt, dass er nicht da ist und findet ihn am Ufer des Wassers, aus dem Kopf blutend und bewusstlos. Sie ruft die Rettung an, Borys und Franz. Fritz wird ins Krankenhaus gebracht, wo er einige Tage später stirbt. Borys kommt, um die von Schuldgefühlen gepeinigte Piotra nach Polen zurückzubringen. Franz ist erleichtert.

Kommentar

Die Bezeichnung „Sprechtheater“, die die Autorin ihrem Stück beifügt, weist von Anfang an auf die Bedeutung der Sprache, der Sprachen, und der Musikalität hin. Der Text ist gespickt mit Zungenbrechern, sprichwörtlichen Wendungen, Liedern auf Polnisch oder Englisch, Passagen in medizinischer oder pharmazeutischer Fachsprache und Begriffen aus der Fischzucht. Die Unterschiede zwischen den drei Figuren – Fritz, Franz und Piotra – und den diversen Figuren, die sie übernehmen, werden durch ihre Sprechweise und das von ihnen verwendete Vokabular deutlich, das ihre Herkunft ziemlich genau bezeichnet. Die Empathie der Autorin mit der Welt, die sie schildert, ist offensichtlich, ebenso wie ihre Freude am Spiel mit ihren Figuren und der Wunsch, sich nicht von der Last einer sehr hinterwäldlerischen Umgebung erdrücken zu lassen. Der Alltag nimmt zwar seinen Platz ein, aber er wird von den fast poetischen Momenten der Figuren durchbrochen. Diese bleiben in Süddeutschland angesiedelt, auch wenn der bayerische Dialekt im Französischen durch eine Umgangssprache wiedergegeben wird, die geografisch nicht festgelegt ist.

Biografische Anmerkung

Raphaela Bardutzky lebt und arbeitet in München, wo sie Moderne Literatur, Philosophie und Dramaturgie studiert. Sie ist Mitbegründerin des Netzwerks Münchner Theaterautor+Innen und arbeitet als Dramaturgin mit verschiedenen Gruppen der freien Szene zusammen. Ihr erstes Stück, Wüstling (2017), erhielt das Münchner Literaturstipendium, das zweite, Fischer Fritz, den Publikumspreis bei der Neuen Dramatik an den Münchner Kammerspielen (2021). Es ist eines von drei preisgekrönten Stücken der Autorentage (ATT) am Deutschen Theater in Berlin. Uraufführung in Berlin am 18. Juni 2022, in Kooperation mit Leipzig und Graz.

Heinz Schwarzinger, Paris, Juni 2022

Version française / Französische Version 
raphela bardutzky, fritz petit fils de pêcheur [fischer Fritz]

R´esumé

Tout part d’un fourche-langue classique en allemand, comparable aux chaussettes de l’archiduchesse dont on ne sait si elles sont sèches, voire archi-sèches. Sauf qu’ici, il s’agit du fils d’un pêcheur professionnel prénommé Fritz vivant au fin fond de la Bavière, qui s’évertue à attraper du poisson frais mais qui, victime d’un accident cérébral, ne peut plus assouvir sa passion. Son propre fils, Franz (car né le jour de la Saint François), coiffeur à Munich, en relation délicate avec son père, ne parvient pas à faire entrer celui-ci dans un Ehpad. Seule solution : une jeune aide-soignante importée de Pologne, parlant l’allemand à peu près et dévouée à son travail. Pendant le voyage, celle-ci s’entiche de Borys, le chauffeur du minibus avec qui elle va échanger force textos en polonais.

Piotra s’occupe bien de Monsieur Fritz, l’aide comme elle peut et prépare de bons plats de poisson. Franz vient tous les lundis faire les courses et distraire son père.

Pendant cet été caniculaire, Fritz craint pour les poissons de la rivière qui coule le long de son jardin, au point de s’extirper un petit matin de son lit et, à l’aide du déambulateur, d’avancer jusqu’à l’eau. Alors qu’il veut vérifier le niveau de l’eau, le déambulateur lui échappe et il tombe sur la rampe de béton. Piotra se rend compte de son absence et le retrouve au bord de l’eau, saignant de la tête, inconscient. Elle appelle les secours, Borys et Franz. Fritz est transporté à l’hôpital où il meurt quelques jours plus tard. Borys vient pour ramener Piotra, pétrie de culpabilité, en Pologne. Franz est soulagé.

Commentaire

Le qualificatif de « Sprechtheater », théâtre de parole, que l’auteure donne à sa pièce indique d’emblée l’importance de la langue, des langues, et de la musicalité du texte. Truffé de casse-langues, d’expressions proverbiales, de chansons en polonais ou en anglais, de passages en langage médical ou pharmaceutique, de termes techniques de la pisciculture, le texte bruisse de multiples nuances. Les différences entre les trois personnages – Fritz, Franz et Piotra – se dessinent souvent grâce à leur manière de parler, au lexique qu’ils utilisent et qui révèle assez précisément leurs origines, quels que soient les personnages que l’acteur ou l’actrice  endossent.

L’empathie de l’auteure avec le monde qu’elle dépeint est manifeste, de même que son plaisir à jouer avec ses personnages et leur désir de ne pas se laisser écraser par le poids d’une campagne très arriérée. Le quotidien prend toute sa place, certes, mais il est percuté par les échappées quasi poétiques des personnages. Ceux-ci restent localisés dans le Sud de l’Allemagne, même si le dialecte bavarois est rendu par un parler familier non marqué géographiquement – ce qui permet aux personnages de voyager au-delà de l’allemand.

Note biografique

Raphaela Bardutzky vit et travaille à Munich où elle fait des études de lettres modernes, de philosophie et de dramaturgie. Elle co-fonde l’association Réseau des auteur.es de théâtre de Munich et collabore en tant que conseillère littéraire avec différents groupes de jeune théâtre.

Sa première pièce Le débauché (Wüstling, 2017) reçoit la Bourse littéraire de Munich, la deuxième (Fritz petit fils de pêcheur) le Prix du public lors de sa présentation aux Nouvelles dramaturgies aux Kammerspiele de Munich (2021). Elle est l’une des trois pièces primées aux Journées des auteur.es (ATT) au Deutsches Theater de Berlin. Création à Berlin le 18 juin 2022, puis à Leipzig et à Graz.

Heinz Schwarzinger, Paris, juin 2022

Info Raphaela Bardutzky, FISCHER FRITZ