Frédéric Sonntag: B. TRAVEN

übersetzt aus dem Französischen von Yvonne Griesel

Frédéric Sonntag | Foto: www

Der Autor

Der französische Autor Frédéric Sonntag nennt sein Stück B. TRAVEN ein Kaleidoskop. In seinem umfänglichen Text geht Sonntag der Frage nach, wer der mysteriöse Autor B. Traven war, über den so wenig Eindeutiges bekannt ist. In fünf mit einander verwobenen Erzählsträngen umspannt das Stück ein ganzes Jahrhundert vom ersten Weltkrieg und von der Münchner Räterepublik bis ins 21. Jahrhundert. Eine Erzählfigur führt durch ein weit aufgespanntes Panoptikum von Geschehnissen zwischen 1917 und 2009, ein Jahrhundert voller Ideologien, Revolutionen, Kriegen, Exilen, von Scheinwahrheiten, Legenden und blanken Lügen.

Ein Boxer-Dichter geht nach Amerika; ein Drehbuchautor im antikommunistischen Hollywood wird 1949 von der Bundespolizei unter Druck gesetzt; eine Filmemacherin will eine Dokumentation über B. Traven drehen und seine Identität klären; linke Hausbesetzer wollen 1994 ein Kino betreiben und verlieren sich in romantischen Utopien, politischen Kostümen und sehnsüchtigen Küssen. Sie starten einen Piratensender, ein Neuer kommt hinzu und träumt von den Zapatistas in Chiapas, da ist wieder von einer der Personas von Traven die Rede. Als nächstes ist B. Traven 1949 ein kommunistisches Kollektiv von Drehbuchautoren im antikommunistischen Hollywood, 2009 blickt eine Frau auf diese Kinobesetzung und ihre Ziele zurück, die inzwischen ganz anders erscheinen als zu zwanzig Jahre früher. Die unermessliche Personnage besteht aus Figuren, die den Schriftsteller vielleicht gesehen haben, vielleicht er waren oder ihm ihrerseits auf der Spur sind; ist er vielleicht sogar Leo Trotzki? Schließlich verbindet sich die Geschichte des mysteriösen Mannes mit einer ganz großen Verschwörungstheorie der Einflussnahme der Vereinigten Staaten von Amerika auf revolutionäre Bestrebungen durch Übersättigung der Bevölkerung mit Zucker in Form von Coca-Cola, das die revolutionäre Stimmung quasi als Droge dämpft. Und dann ist da 1977 noch der Dokumentarfilm über B. Traven von Lester und Glenda, in dem sie ihm auf die Spur kommen wollen. „Warum versteckt man sich sein Leben lang hinter lauter Masken?” fragt Glenda, „Woher kommt dieses absolute Beharren auf Anonymität? Das ist das Thema unseres Films, Lester.” Es ist auch das Thema dieses Stücks.

Der Autor Frédéric Sonntag, ein junger Mann mit halblangen, dunkelblonden Haaren, leichtem Vollbart, der freundlich und energetisch in die Kamera blickt.
Plakat der Uraufführung im Nouveau Théâtre de Montreuil

Zig Pseudonyme pflastern seinen Weg, zu viel(e) Leben für eine Person, biografische Ungereimtheiten, Vexierspiele, Projektionen … All diese Metaphern tauchen als Strukturelemente auch im Stück selbst auf: Ein mexikanischer Ringer wird „mit seiner Maske begraben“, die Projektionen finden als zahlreiche Filmvorführungen bzw. als ein zu drehender Film statt, ein Vogel namens Zapata (die Revolution in Chiapas spielt eine Rolle) ist schon tot, hat aber trotzdem noch etwas zu sagen. Der Text verwendet unterschiedliche Formate: Prosaerzählung, Dialogteile, Namensaufzählungen zu Anfang der Szenen, Sprechernarration, Zitate von Trotzki, Traven, Arthur Cravan (dem dichtenden Boxer).

Immer geht es aber auch um Situationen des Umbruchs, der Revolution und ihrem Scheitern, so dass die Revolutionäre fliehen müssen, und irgendwie flieht, wer nicht schon dort ist, immer nach Mexiko. Es herrscht eine Atmosphäre der Undurchsichtig- und Mehrdeutigkeit, die sich auf ein exotisiertes Bild von Mexiko überträgt, das nun alles infiltriert und infiziert, einer träumt vom Partisanenkampf in Chiapas, andere spüren eine Erotomanie vom mexikanischen Boden ausgehen. Das Stück schafft ein Universum der Chimären, der vermeintlichen Wahrheiten, die immer wieder umgestoßen werden, sich ablösen, eine hinter der nächsten.

Mit GEORGE KAPLAN und BENJAMIN WALTER bildet dieses Stück eine Trilogie von Frédéric Sonntag über rätselhafte, verschwundene bzw. fiktive Identitäten.

Frédéric Sonntag, geboren 1978, ist Autor, Schauspieler und Regisseur. Er studierte am Conservatoire National Supérieur Dramatique und gründete 2001 die Theatergruppe AsaNIsiMAsa.

2010 erhielt Frédéric Sonntag den Prix Godot des lycéens für Toby ou le saut du chien sowie den Prix de la pièce de théâtre contemporain pour le jeune public (Bibliothèque Armand Gatti) für Sous contrôle; 2013 wurde sein Stück Sous contrôle mit dem Prix ado du théâtre contemporain (Acamédie d’Amiens) ausgezeichnet.
(rowohlt Theaterverlag)

Die Übersetzerin

Yvonne Griesel, entspannt lächelnd in einem Restaurantstuhl mit Glas auf einem Tisch vor sich
Dr. Yvonne Griesel | Foto: A. Rüttenauer

Yvonne Griesel hat das Stück für den Rowohlt-Theaterverlag aus dem Französischen übersetzt.

Henning Bochert: Was hat dich an dem Text fasziniert?

Yvonne Griesel: Die Konfrontation mit mir selbst, die Frage nach der Bedeutung des Individuums und das Hinterfragen meiner eigenen Moral im Laufe des Lebens, wie Kampf und Werte mehr und mehr in den Hintergrund treten und wo Menschen wie B. Traven, Trotzki und viele andere die Kraft hernahmen, nie aufzugeben. Und natürlich die Frage, ob wir in unserer heutigen Welt noch die Möglichkeit einer Anonymität haben und ob sie uns nicht unter Umständen sehr gut tun würde.

Eine bestimmte Frage hat mich am Rande noch besonders fasziniert, um herauszufinden, wer der Bestsellerautor B. Traven war, wurden unglaublich viele Autoren in Betracht gezogen, aber niemand kam auf die Idee, dass seine mexikanische Frau, die als seine Übersetzerin ins Spanische arbeitete, sich hinter dem Psyeudonym gemeinsam mit ihm verbergen könnte. Komisch und typisch, dass sich diese naheliegende Frage niemand gestellt hat.

HB: Welches waren die besonderen Herausforderungen bei der Übersetzung dieses Textes?

YG: Die verschiedenen Stilebenen, die zwischen den 70er Jahren, den 90er Jahren, Anfang des Jahrhunderts und der heutigen Sprache in schneller Folge wechseln mit wissenschaftlichen Werken und Zitaten von B. Traven, Cavan und anderen Literaten seiner Zeit. Ich mag diese Brüchigkeit, die das Thema des Stückes auf einer weiteren Ebene abbildet und für die Übersetzung eine spannende Herausforderung war.

HB: Wie hat sich die Zusammenarbeit mit dem Autor gestaltet (wenn überhaupt)?

YG: Ich hatte einige Fragen zu den Zitaten, Frédéric Sonntag hat Zitate von B. Traven verwendet, die er auch teilweise leicht bearbeitet hat. Da man ja davon ausgeht, dass die Ursprungssprache Deutsch ist, haben wir hierüber viel korrespondiert. Da wir uns aber noch nicht persönlich getroffen ahben, bin ich sehr dankbar, dass Eurodram uns nun dieses Treffen in Wien ermöglichen wird.

Dr. Yvonne Griesel arbeitet freiberuflich als Übertitlerin, Übersetzerin und Dolmetscherin. Mit ihrer Firma SPRACHSPIEL hat sie sich darauf spezialisiert, fremdsprachige Inszenierung für Festivals und Gastspiele zu übertragen, und arbeitet unter anderem für die Münchner Kammerspiele, die Ruhrtriennale, Theater der Welt, die Volksbühne, das Residenztheater in München u.a.m. (www.sprachspiel.org) Sie übersetzt für Henschel Schauspiel, den Rowohlt Verlag, den Alexander Verlag und Theater der Zeit aus dem Russischen und Französischen. Darüber hinaus ist sie im Vorstand von Drama Panorama e. V. Yvonne Griesel ist Dipl.-Dolmetscherin für Russisch und Französisch und hat zum Thema Übertitelung im Theater an der Humboldt Universität promoviert, wo sie sieben Jahre in der Lehre tätig war. Publikationen: u. a. „Translation im Theater“ (2000, Peter Lang Verlag), „Die Inszenierung als Translat“ (2007, Frank und Timme Verlag). „Welttheater verstehen“ (2014, Alexander Verlag) sowie zahlreiche Artikel in internationalen Fachpublikationen. (Drama Panorama)

von Henning Bochert

PORTRÄT: Mehdi Moradpour

UNBESCHRIEBENE ORTE

Die Regisseurin Sandra Schüddekopf im Gespräch mit Mehdi Moradpour über seinen Text EIN KÖRPER FÜR JETZT UND HEUTE

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Der Autor Mehdi Moradpour. – Copyright: Neda Navaee

 

Man könnte sagen, dass in „Ein Körper für Jetzt und Heute“ andere Landschaften vorkommen, als wir sie jetzt so kennen, also rein von den sprachlichen Bildern her. Deine Sprache oder die Bilder, woraus speisen die sich? 

In diesem Fall habe ich lange gebraucht für diese Bilder, für diese Landschaften, weil ich auf der Suche war, vor allem nach einem Rhythmus. Also, den Ablauf des Hauptteiles hatte ich mehr oder weniger im Kopf. Das war hauptsächlich am Strand und voller Traumlandschaften. Aber ich wollte auch die Geschichte oder die Aufstiegsgeschichte von Elias erzählen, der aus dem Dorf in die Stadt kommt und dann weiterzieht, in ein anderes Land und in eine andere Landschaft, mit einem anderen Körper. Und immer weiter will. Bei dieser Suchbewegung sind verschiedene Textsorten und Rhythmen entstanden: Flächentext, Monolog, Textkörper oder Figurenrede.

Tatsächlich beziehe ich mich auf eine Mischung aus, sagen wir, ungefähr fünf Großstädten und Dörfern, die ich kenne, wo ich aufgewachsen bin, wo meine Eltern herkommen, Orte in Brasilien und Kuba, wo ich Ähnlichkeiten gefunden habe. Aber ich habe auch mit Absicht ein bisschen scheinbare Widersprüche eingebaut. Also, das sind die realistischen Bilder, die ich im Kopf hatte. Sprachlich verschiebe ich das nur. Ich versuche für das konkrete Bild manchmal noch mal ein Adjektiv oder eine Eigenschaft zu nehmen, die das Bild etwas verschieben. Vulkanschlote und Schneeberge kann es dann zum Beispiel nebeneinander geben oder ein paar Kilometer voneinander entfernt.

 

Es sind im Endeffekt dann keine konkreten Orte, an denen das für dich spielt, sondern eigentlich eher so, wie diese Figur auf der Suche nach einem Körper ist, einem eigenen jenseits von Zuweisungen, funktionieren für dich die Orte im Prinzip auch?

Einerseits sind es konkrete Orte und andererseits universelle. Es ist ja prinzipiell so, dass ich aufgrund meiner Herkunft oder meiner Herkünfte etwas vorsichtig bin. Selbst in Teheran bin ich manchmal jemand, der nicht „ursprünglich“ von da ist, sondern aus dem Norden. Und selbst im Norden waren Teile der Familie meiner Eltern Menschen, die nicht von dort sind, sondern „ursprünglich“ aus der ehemaligen Sowjetunion.

Bei allen Texten versuche ich natürlich eine konkrete Situation zu schaffen. Zum Beispiel geht es in „Türme des Schweigens“ um kommunistische Eltern mit einem muslimischen Hintergrund, die können aber aus 20 Ländern kommen. Ich versuche trotz einer konkreten Situation, eine Universalität zu schaffen. In diesem Fall ist es zum Beispiel klar, dass die Anfangssituation (Transsexualität erlaubt / Homosexualität nicht erlaubt) im Iran spielen kann. Ich denke, es ist in einigen Ländern in der Welt auch ähnlich. Aber ich versuche keine Namen zu nennen. Es geht nicht um Beliebigkeit, sondern um realistische Tatsachen, die keine extra Zuweisungen brauchen. Deswegen es stimmt schon, dass ich versuche, dadurch den Zuschreibungen zu entkommen, zugleich will ich nicht relativieren. Es ist klar, es geht um eine religiöse Familie aus einem islamischen Hintergrund. Der Sohn hat aber einen jüdischen Namen, was oft vorkommt. Und er will am Ende wie ein Jesus auf einem Kreuz liegen. Also irgendwie habe ich auch versucht, Bilder von drei monotheistischen Religionen zu verwenden. Das geschah aber am Anfang intuitiv.

 

Was für eine Vorstellung von Religion ist für dich damit verknüpft?

Judentum, Christentum und Islam haben viele Gemeinsamkeiten. Regeln für das Zusammenleben, Rituale, Symbolik, Grundpflichten oder die Heilsgeschichte: Da überschneidet sich viel. Sie sind seit Jahrtausenden im ständigen Dialog, oder Trialog, gewesen. Oder eben im Streit, im Krieg. Für mich trägt Elija, der sich selbst ab einem gewissen Zeitpunkt sehr prophetisch wahrnimmt, etwas von allen drei Religionen in sich.

 

Die Sprecherpositionen deiner Figuren sind sehr klar, das ist eine Qualität, die der Text hat. Gleichzeitig gibt es sehr viele Themen, die darin vorkommen. Neben der Transsexualität oder der Verwandlung des Körpers wird das Thema des Funktionierens des Körpers, anhand der Notwendigkeit einer Nierentransplantation für eine der Figuren, verhandelt. Man hat das Gefühl, es werden Themen angerissen, und das eröffnet viel Raum, über diese nachzudenken, gleichzeitig ist es nicht so leicht, all diese Ebenen, wenn ich den Text nur einmal höre, zu erschließen. Gibt es für dich eine Vorstellung, wie der Zuschauer als Theaterzuschauer damit umgehen könnte?

Ich versuche erst mal, eine eigene Realität innerhalb des Textes zu schaffen. Eine eigene Gesetzmäßigkeit innerhalb des Textes. Etwas, das kein reines Festland ist. Wahrscheinlich wuchert es deshalb auch ein wenig und es gibt manchmal viele Ebenen, weil jede Realität komplex ist. Irgendwann ist aber klar, welche Hauptthemen es gibt. Wichtig ist für mich die Zugänglichkeit der Zuschauenden zu einem oder mehreren Bereichen.

Ich gebe aber auch gleichzeitig zu, dass ich manchmal Schwierigkeiten habe, permanent zu denken, da sitzen Leute und schauen hin. Das kann mich oft beflügeln, aber manchmal denke ich auch, bestimmte Teile und Landschaftsbeschreibungen gehören für mich zwar dazu, das könnte aber in den Theaterraum nicht so einfach hineinpassen oder zu den Textteilen, die griffiger sind, dann denke ich, dass ist ja auch nicht immer meine Aufgabe, zum Glück.

 

Es gibt ja auch Abschnitte, die ich auf einer atmosphärischen und nicht rationalen Ebene verstehen kann. Trotzdem beschäftigt mich als Regisseurin dieses Wuchern der Sprache und der Themen für eine mögliche Umsetzung auf der Bühne. Auch für eine Übersetzung ist dieser Text ja eine sehr große Herausforderung.

Ja, eine erfahrene Übersetzerin, mit der ich arbeite, hat gesagt, das ist sicher einer meiner schwierigen Texte, aber sie übersetzt ihn gerade ins Englische. Weil es für sie wie eine Reise ist, und ich liebe es, im Prozess der Übersetzung permanent in Kontakt zu sein. Das mache ich auch, wenn ich selbst übersetze. „Mumien. Ein Heimspiel“ wurde ins Italienische übersetzt, da gibt es auch dichte Stellen am Ende und da kam die Übersetzerin mit italienischen Beispielen, und da ich Spanisch kann und sie auch ein bisschen, hat der Austausch gut funktioniert. Irgendwann bin ich darauf gekommen, sie soll sehr frei arbeiten.

 

Ihr seid also über mehrere Sprachen gegangen?

Genau. Ich bin der Meinung, wir müssen Verluste in Kauf nehmen, für mich ist es viel wichtiger, dass der Übersetzer / die Übersetzerin ein gutes Gefühl hat, auch für das Land, wo der Ausgangstext gelesen oder gesehen werden soll.

Mumien hat ja schon im Titel ein Heimspiel. Und es spielt im und in der Umgebung eines Asylbewerberheims. Und diese Doppelung funktioniert natürlich in anderen Sprachen nicht. Ich spiele da außerdem mit den Begriffen „heimlich“, „unheimlich“, „heimelig“, „heim gehen“, „heim sterben“ und habe da auch manche Paarungen erfunden. Und dann habe ich gesagt, versuch mal, wo du kannst, Paare zu bilden, und wenn es nicht geht, dann bilde sie an anderen Stellen. Nicht nur semantisch, sondern auch klanglich.

 

Mich erinnert die Thematik von „Ein Körper für Jetzt und Heute“ auch an A Manifesto for Cyborgs von Donna Haraway, einen Text aus den 80er Jahren.

Elija geht es ja um die Zukunft des Körpers, um die Allianzen zwischen Organismus und Maschine, also um dieses Cyborg-Werden, sich auflösen und in einem unbeschriebenen Ort neu zusammensetzen, zugleich darum, sich eine neue Welt vorzustellen, wo neue soziale Strukturen und Fragen permanent behandelt werden. Denn das ist ein Stück, in dem es primär um die soziale Neugestaltung der Welt geht, als nur um isolierte Identitätskonzepte oder Verschiebung des Menschseins.

 

Noch mal zur sozialen Frage der Körper – der Gedanke, dass so ein technisierter Körper jenseits der Zuschreibungen etwas positiv Grenzüberschreitendes sein kann, spielt ja heute eigentlich keine Rolle mehr, weil die Idee der Optimierung der Körper in den Vordergrund gerückt ist: Da finde ich interessant, dass du dich jenseits der Optimierung mit der Frage beschäftigst, was kann überhaupt ein Ort jenseits der Zuschreibungen sein und wie können wir dort hingelangen. Also mit der Suche nach dem utopischen Moment dieser Körper.

Ja. Ich hatte eine ältere Version, wo der Fokus nur auf rein utopischer Gestaltung lag. Im Laufe des Schreibens ist mir aber dann klar geworden, es wird doch auch eine Geschichte sein, wo Elija scheitert. Weil er prophetische Visionen hat und jeden Einsatz von technischen und medizinischen Mitteln prinzipiell zuerst bejaht, um sein Ziel zu erreichen, scheitert er. Und das öffnet die Debatte, denke ich. Er behauptet, ich vergesse meine soziale Herkunft nicht. Zwar ist meine Cousine eine Reiche, die eine Ölfirma hat, aber ich denke bei der Überwindung der körperlichen Einschränkungen immer an die soziale Frage und neue Allianzen. Er überlegt sich: Wie können wir anhand der Technik neue Widerstandsbewegungen schaffen? Wir hatten eine Lesung in Berlin, und bei der Besprechung lag der Fokus darauf, dass wir die Technik nicht komplett sozial steuern können. Am Ende bin ich an den Punkt gekommen, dass es vielleicht besser ist, dass er – oder sie  daran scheitert, um diese Fragen in den Raum zu werfen.

Bezüglich der technischen Möglichkeiten war es so: Je mehr ich konkretisiert habe, was Elija für seine Utopie haben und wollen könnte, umso mehr merkte ich, die Technik ist schon vor zehn Jahren weiter gewesen, als ich ihn denken lassen könnte. Ich würde sagen, ich belasse das Thema ambivalent, weil es immer so bleiben wird, und zeige damit ein bisschen, dass eine ruckartige utopische Grenzüberschreitung an den Forderungen der Gesellschaft scheitern kann.

Haraway sieht das Cyborg-Werden ja auch positiv, würde ich sagen. Das kann man so vielleicht aus der heutigen Perspektive nicht mehr nur so sehen. Es wird letzten Endes immer eine Mischung aus beidem sein. Utopische Visionen schlagen neue Schneisen, sie zwingen uns, aus dem Gewohnten herauszutreten, um das Gewöhnliche überhaupt erst sehen zu können. Gefahren sind dabei produktive Kollateralschäden.

 

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Illustration zur Uraufführung am Schauspielhaus Wien. – Copyright: Schauspielhaus Wien

IRYNA HERASIMOVICH übersetzt EIN KÖRPER FÜR JETZT UND HEUTE durch Vermittlung von EURODRAM aktuell ins Belarussische; gefördert mit einem Übersetzungsstipendium des Goethe Instituts.

 

KURZBIOGRAPHIE 

Mehdi Moradpour, geboren in Teheran, ist Autor, Übersetzer und Dolmetscher (Farsi / Dari und Spanisch) und lebt seit 2001 in Deutschland. Er studierte Physik und Industrietechnik in Iran und ab 2004 Hispanistik, Soziologie, Amerikanistik und Arabistik in Leipzig und Havanna. 2014 bis 2016 besuchte der den Lehrgang „Forum Text“ der Uni Graz.

Für MUMIEN. EIN HEIMSPIEL bekam er 2015 den Jurypreis des 3. Autorenwettbewerbs der Theater St. Gallen und Konstanz; für TÜRME DES SCHWEIGENS den exil-DramatikerInnen-Preis 2016 der Wiener Wortstätten. Im selben Jahr wurde sein Musiktheaterstück CHEMO BROTHER an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt. Er erhielt 2017 den Christian-Dietrich-Grabe-Preis für REINES LAND.

 

RECHTE:

Suhrkamp Verlag

Kontakt: theater@suhrkamp.de

 

 

 

 

PORTRÄT: Simona Semenič

Die slowenische Autorin Simona Semenič zeichnet in „sieben köchinnen, vier soldaten und drei sophien“ ein sprachgewaltiges, poetisches Psychogramm von Krieg und Widerstand, das zeitlos wirkt, aber dennoch hochaktuell ist.

Ein Gespräch mit der Autorin und der Übersetzerin Urška Brodar.

Simona Semenič
Die slowenische Autorin und Performerin Simona Semenič

Simona, können Sie uns beschreiben, wie der Text entstanden ist? Arbeiten Sie normalerweise mit einem Regisseur oder einer Regisseurin zusammen, wenn Sie ein neues Stück entwickeln?

Simona Semenič: Das Stück war ein Auftragswerk des Stadttheaters Ljubljana, die einzige Vorgabe, die ich bekam, war, dass es etwas mit Sophie Scholl zu tun haben sollte. Ich las viel über Sophie Scholl und recherchierte dann über einige andere bemerkenswerte Frauen aus der Zeit des 2. Weltkriegs, zum Beispiel Irene Sendler und Simone Weil. Die Ursprungsidee war also der 2. Weltkrieg. Aber dann wurde mir klar, dass das nicht die Form von Geschichte war, die ich erzählen wollte. Ich wollte über die Mechanismen des Krieges im Allgemeinen schreiben. Und nicht nur über die Mechanismen des Krieges, sondern über den Druck, den die Gesellschaft auf außergewöhnliche Individuen ausübt.

Ich habe beim Schreiben des Stücks nicht mit einem Regisseur zusammengearbeitet, das mache ich sonst auch nicht. Ich besuche für gewöhnlich auch keine Proben. Ich überlasse mein Stück lieber den Theatermachern, damit sie es so interpretieren können, wie es für die Aufführung am sinnvollsten erscheint. Ich habe auch kein Problem damit, wenn sie das Stück verändern. „sieben köchinnen…“ wurde zum Beispiel um 60% gekürzt.

Welche Idee stand am Anfang des Stücks?

Simona Semenič: Eigentlich wollte ich ein Stück über meine Großmutter schreiben. Sie hat ebenfalls im 2. Weltkrieg gekämpft, aber sie blieb namenlos, eine unter vielen Tausend anderen Frauen. Nach dem Krieg kehrte sie nach Hause zurück, zog Kinder groß, arbeitete, kümmerte sich um den Haushalt, die Kämpfe des alltäglichen Lebens. Niemand spricht über diese Frauen oder denkt an sie, wir sprechen über Helden, wir bauen Denkmäler für sie, aber dennoch leben weit mehr Helden unter uns, als wir uns das bewusst machen. Für das Stadttheater Ljubljana konnte ich diese Idee nicht umsetzen, das habe ich dann in meinem nächsten Stück getan – „We, the European Corpses“.

Sie verwenden nur Kleinschreibung in Ihrem Text. Welche Bedeutung hat das für Sie?

Simona Semenič: Es hat nicht nur eine Bedeutung. Ich fing an, so zu schreiben, als ich 2007 meinen ersten autobiographisch geprägten Monolog „I, the Victim“ entwickelte. Ich schrieb den Text eigentlich für mich, ich wollte ihn auch selbst spielen und Regie führen. Am Anfang verwendete ich ganz normal Groß- und Kleinschreibung. Aber dann wurde mir klar, dass ich das Stück nicht für mich, sondern doch für eine Schauspielerin schreibe. Das war seltsam, nicht einfach zu erklären. Als ich dann mit dem Schreiben wieder am Beginn anfing, gab es keine Großschreibung mehr. Ich schrieb den Text als eine Art Gedicht. Und dann behielt ich das bei.

In meinen Augen bleibt für den Leser so mehr Raum, die einzelnen Sätze zu interpretieren. Wenn ich das Gefühl habe, ein Fragezeichen oder Ausrufezeichen sind unbedingt nötig, dann notiere ich sie, sonst lasse ich auch das offen. Und als ich aufhörte, Großschreibung und Zeichen zu verwenden, die das Satzende markieren, veränderte sich auch der Rhythmus der Sätze, er wurde in meinen Augen lebendiger.

In der deutschsprachigen Theaterwelt wurde in der jüngeren Vergangenheit viel über den Begriff der Autorschaft und die Rolle des Autors im Theater debattiert. Wie würden Sie Ihre Position als Dramatikerin in der slowenischen Theaterszene beschreiben?

Simona Semenič: Slowenien ist ein sehr kleines Land mit einer kleinen Theater-Community, ich fände es unsinnig, von der Position der Dramatiker in unserer Szene zu sprechen. Aber ich würde mal sagen, die Lage, in der ich mich momentan als Dramatikerin befinde, ist so gut, wie sie eben sein kann – meine Stücke werden fast alle gespielt, Theater geben mir Schreib-Aufträge, ich habe bereits drei Grum-Preise erhalten (der Preis für das beste slowenische Stück), all das klingt natürlich toll und ist es auch. Ich sehe eher das Problem, dass ich in diesem Bereich in Slowenien kaum noch etwas anderes erreichen kann – und dennoch nicht über ein angemessenes Einkommen verfüge. So würde ich meine Position in der slowenischen Theaterszene beschreiben: Ich nehme jeden Job an, der mit geboten wird, um gerade so übers Jahr zu kommen.

Urška, Sie stehen als Übersetzerin gewissermaßen „zwischen den Sprachen“, außerdem kennen Sie die deutschsprachige Theaterszene gut. Können Sie beschreiben, was für Sie die wesentlichen Unterschiede zur Theaterarbeit in Slowenien sind?

Urška Brodar: Genau, ich habe die letzten 5 Jahre zwischen Berlin und Ljubljana gelebt und freischaffend als Übersetzerin und Dramaturgin gearbeitet. Der erste wesentliche Unterschied ist natürlich die Größe der Theaterszene. Slowenien ist ein Land mit knapp 2 Millionen Einwohnern, das ist die Hälfte von Berlin! Das slowenische Theatersystem ist wegen der Geschichte zwar ähnlich aufgebaut wie in den deutschsprachigen Ländern, wir haben Staats- und Stadttheater und eine professionelle freie Szene (vor allem in Ljubljana), die staatlich finanziert sind durch das Kulturministerium. Seit der Wirtschaftskrise 2008 werden jedoch die finanziellen Mittel der Kultur jedes Jahr gekürzt, was vor allem der freien Szene stark zu schaffen macht (auch die Kürzungen der Programmgelder der Staats- und Stadttheater treffen vor allem die Freischaffenden, denn die Gehälter des öffentlichen Dienstes kann man ja nicht so einfach runtersetzen). Die freie Tanzszene ist mittlerweile fast ausgestorben, was eine Schande ist, denn sie war seit den 90ern im Aufschwung und ist auch international bekannt. Und das obwohl wir seit zwei Jahren eigentlich wieder ein Wirtschaftswachstum haben.

Deutschland hat die letzte Krise nicht so richtig getroffen. In den letzten Jahren hat es die Berliner freie Szene geschafft, einen Landesverband der freien darstellenden Künste (LAFT) zu gründen, der sich für faire Arbeitsbedingungen und Bezahlung der Freischaffenden einsetzt und die Honoraruntergrenze bei 2.300 Euro pro Monat ansetzt. Wir haben zuletzt für ein Projekt in der freien Szene in Ljubljana 5.000 Euro bekommen, brutto, für alles! Natürlich beeinflussen die geringen Mittel auch die Inszenierungsmöglichkeiten. Es entstehen vor allem kleine Produktionen mit wenigen Performern in der freien Szene. Kaum Bühnenbild und Kostüme. Keine komplizierte Technik. Das ist nicht unbedingt schlecht, denn es entstehen starke inhaltliche Konzepte. Man konzentriert sich auf das Wesentliche. Aber man hat auch keine andere Wahl.

Wie sind Sie auf den Text von Simona gestoßen? Haben Sie bereits andere Texte von ihr übersetzt?

Urška Brodar: Ich kenne Simona schon ziemlich lange, seit ich das Dramaturgiestudium angefangen habe, also 2002. Damals war sie auch noch Dramaturgiestudentin. Ich erinnere mich, dass sie eine der wenigen war, die ihr Studium mit einem Stück abgeschlossen hat. Denn in Slowenien galt damals noch die Maxime, dass man als Dramatiker geboren ist oder eben nicht, man konnte es also nicht lernen. Wir hatten überhaupt keine praktischen Schreibkurse an der Theaterakademie, wie es in anderen Ländern üblich ist. In Slowenien waren noch vor kurzem alle Dramatiker Männer und vor allem kamen sie von der Literatur her, wenige waren oder sind auch Regisseure.

Das hat sich erst seit den letzten fünfzehn Jahren ein bisschen verändert. Und Simona ist eine der wichtigsten Akteurinnen auf dem Gebiet. Mit ihr war ich auch selbst bei einer Schreibwerkstatt, wo wir Kurzstücke geschrieben haben, die später sogar aufgeführt wurden. Und ungefähr in der Zeit (2004 oder 2005) hat sie mit noch ein paar Enthusiasten „PreGlej“ gegründet, aus einer Notwendigkeit heraus, dass man das Stückeschreiben lernen und in einer Gruppe in verschiedenen Arbeitsphasen besprechen kann. Und die Resultate sind heute sichtbar. Viele Stücke von den Autoren der Gruppe wurden aufgeführt und auch mit Preisen geehrt. Simona hat sich zu einer der meist gespielten Gegenwartsautorinnen entwickelt. Ich bewundere ihre Arbeit also schon von Anfang an.

Zum Übersetzen habe ich gerade dieses Stück ausgewählt, also „sieben köchinnen, vier soldaten und drei sophien“, weil ich finde, dass die Themen, die sie im Stück aufgreift, für die deutschsprachige Theaterlandschaft interessant sind. Wir haben mit „Periskop“, einem kleinen Kulturverein in Berlin, einen Abend mit Simona veranstaltet, eine Art Lesung, wo aber das Publikum selbst einen Abschnitt aus dem Stück vorlas und danach mit der Autorin ins Gespräch kam. Das Interesse war da und mir hat dann die Slowenische Buchagentur den Auftrag anvertraut, das ganze Stück zu übersetzen. Das ist eigentlich meine erste Übersetzung ins Deutsche. Das Ideal ist ja eigentlich, dass man als Übersetzer nur in seine Muttersprache übersetzt und nicht umgekehrt. Deswegen bin ich meinen beiden Tandem-Übersetzern Wolfram Lotz und Harriet von Froreich für ihre Hilfe bei der Endfassung sehr dankbar.

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Die Übersetzerin und Dramaturgin Urška Brodar. – Copyright: Dani Modrej

Das Gespräch führte Ulrike Syha.

Biografien.

SIMONA SEMENIČ (*1975) ist eine slowenische Dramatikerin und Performerin. Sie hat einen Abschluss in Dramaturgie der „Academy for Theatre, Radio, Film and Television (AGRFT)“ in Ljubljana.

Simona Semenič hat bereits drei Mal den Grum-Preis gewonnen, die höchste nationale Auszeichnung für zeitgenössische Dramatiker in ihrem Heimatland Slowenien. Das erste Mal gewann sie mit dem Stück 5boys.si (2008), das später in 12 Sprachen übersetzt und in verschiedenen Ländern in Europa, den USA und im Nahen Osten aufgeführt oder veröffentlicht wurde. Für 24hrs (2006) und Seven Cooks, four Soldiers and three Sophias (2014) („sieben köchinnen, vier soldaten und drei sophien“) gewann sie ebenfalls Preise bzw. wurde mit 1981 (2013) und This Apple, made of Gold (2016) dafür nominiert.

Weitere Stücke: You didn’t forget you just don’t remember anymore (2007), Feast (2010), Blame It All on Donnie Darko (2011), Sophia (2011), We, the European Corpses (2015). Auch Inszenierungen dieser Stücke wurden in Slownien und im Ausland mit Preisen ausgezeichnet.

Simona Semenič schreibt, inszeniert und performt außerdem experimentelle, autobiographische Theatershows, zum Beispiel 9 easy pieces (2007, mit der Gruppe Preglej),  I, the Victim. (2007), Do Me Twice (2009), 43 Happy Ends (2010, mit der Gruppe Preglej), Kapelj and Semenič Under Construction (2012, mit Barbara Kapelj), Bulc and Semenič For Sale (2013, mit Mare Bulc) und The Second Time (2014). Diese Shows wurden vom Publikum und der Kritik sehr gut aufgenommen und bei einigen Festivals im In- und Ausland gezeigt.

Simona Semenič arbeitet außerdem mit Ivan Talijančić, Janez Janša und anderen Theaterregisseuren und Choreographen als Co-Autorin und Dramaturgin zusammen.

Simona Semenič lebt mit ihren beiden Söhnen in Ljubljana.

www.simonasemenic.com

URŠKA BRODAR. (*1983) ist Dramaturgin und Übersetzerin. Als Dramaturgin arbeitet sie sowohl in der slowenischen freien Szene (z.B. Theater Glej, http://www.glej.si/en/) als auch in Nationaltheatern (z.B. Volkstheater Celje).

Als Übersetzerin mit der Sprachkombination Deutsch-Englisch-Slowenisch übersetzt sie vor allem Theaterstücke, z.B. Roland Schimmelpfennig: Vorher/Nachher, Wintersonnenwende, Katja Hensel: Kopf oder Zahl, Wolfram Lotz: Einige Nachrichten an das All, Die lächerliche Finsternis, Bertolt Brecht: Die Mutter, Der gute Mensch von Sezuan, Tankred Dorst: Merlin oder Das wüste Land und auch Poesie und Prosa, unter anderem die Graphic Novel über Johnny Cash von Reinhard Kleist: Cash I See A Darkness und Thomas Bernhards Kurzgeschichte Österreichischer Staatspreis für Literatur.

Sie war Redakteurin im ältesten slowenischen freien Theater Glej in Ljubljana und veröffentlicht Artikel über zeitgenössisches Theater im Theatermagazin Maska. 2014 war sie Teilnehmerin des Internationalen Forums beim Theatertreffen in Berlin. Derzeit ist sie als Dramaturgin am Mladinsko Theater (www.mladinsko.com)  in Ljubljana angestellt.

PORTRÄT: Ivor Martinić

Ivor Martinić erzählt in „DRAMA ÜBER MIRJANA UND DIE MENSCHEN UM SIE HERUM“ in tragikomischen, manchmal auch todtraurigen Szenen vom Leben durchschnittlicher Menschen in einer osteuropäischen Stadt, von der Tristesse ihres Alltags und ihrem Bestreben, der eigenen Existenz allen Umständen zum Trotz einen Sinn zu verleihen.

Ein Gespräch mit dem Autor und der Übersetzerin Blažena Radas.

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Der kroatische Autor Ivor Martinić.

Im Zentrum des Stücks steht Mirjana, eine Frau Anfang vierzig. Mirjana ist Mutter, Tochter, Ex-Frau, Kollegin, Geliebte. Der Fokus liegt auf ihr, aber wir erleben durch sie auch eine Vielzahl anderer weiblicher Charaktere „um sie herum“. 

In Deutschland diskutieren wir immer wieder, dass es selbst in zeitgenössischen Stücken oft mehr Rollen für Männer gibt als für Frauen. Nicht so in „Drama über Mirjana und die Menschen um sie herum“. War es Ihr spezifisches Anliegen, ein Stück über oder gar für Frauen zu schreiben?

Ivor Martinić: Wir leben in einer patriarchalen Gesellschaft. In Europa spiegelt sich das in der unterschiedlichen Bezahlung, in den Arbeitsplatzbedingungen, in den Rollenzuweisungen in der Familie und in den Medien wider… Die Situation der Frauen in der heutigen Gesellschaft ist nicht einfach (und von der Vergangenheit wollen wir gar nicht erst sprechen). Frauen haben im Privat- und Berufsleben durchschnittlich mehr sozial und politisch bedingte Schwierigkeiten zu meistern. Deswegen verfügen Frauen oft auch über mehr Kompetenz als Männer, wenn es um Situationsmanagement und Problemlösungen geht.

Für mich ist es viel interessanter, über Frauen zu schreiben, da ich Frauen als Kämpferinnen erlebe, die sich fast alle ihre Entscheidungen erstreiten müssen. Im Hinblick auf den dramatischen Konflikt bieten weibliche Rollen mehr dramatische Möglichkeiten. Stücke stellen für mich immer eine Reaktion auf Probleme dar, die durch Veränderungen hervorgerufen werden. Ein Stück mit einer großen Anzahl an weiblichen Rollen zu schreiben ist für mich daher kein politisches oder künstlerisches Statement, sondern spiegelt nur meine politischen und künstlerischen Interessen wider.

Persönlich würde ich sehr gerne in einer Gesellschaft leben, in der die Unterscheidung zwischen männlichen und weiblichen Rollen obsolet ist, männliche und weibliche SchauspielerInnen alle Rollen spielen können und das keine Frage des Geschlechts ist. Das wäre für mich ein Zeichen, dass wir in einer wirklich gleichberechtigten Welt leben.

 

„Drama über Mirjana und die Menschen um sie herum“ wurde in Belgrad, Zagreb and Ljubljana inszeniert. Können Sie uns etwas von der Uraufführung erzählen? Wie eng arbeiten Sie mit einem Regisseur zusammen, wenn Sie ein Stück entwickeln? Gehen Sie regelmässig auf Proben? Und was waren die Unterschiede zwischen den einzelnen Produktionen?

Ivor Martinić: Das Stück wurde 2010 am „Yugoslav Drama Theatre“ uraufgeführt und ist dort – acht Jahre später – noch immer im Repertoire, wofür ich sehr dankbar bin. Ich habe die Produktion das letzte Mal vor einem Jahr gesehen und war sehr überrascht, wie mutig es war, dieses Stück so aufzuführen. Mutig aufgrund der Art und Weise, wie die Schauspieler die Rollen mit dramatischen Mitteln interpretieren, basierend auf dem „Alltags“-Thema des Stücks und einer fast an Beckett erinnernden Spielweise. Die Zuschauer mögen das Stück, auch wenn es ihnen nicht nur entgegenkommt. Es ist sehr langsam, es gibt kaum Figurenentwicklung. Das Stück erzählt ganz simple Alltagsmomente, es zeigt einen einzelnen Tag im Leben einer Frau. Ein Tag, der für ihr ganzes Leben stehen könnte. In dieser Inszenierung kommt es einem vor, als würde man durch ein Fenster das Leben einer realen Familie beobachten.

Im selben Jahr wurde das Stück mit großem Erfolg am Nationaltheater in Zagreb und am Stadttheater in Ljubljana aufgeführt. In Zagreb war der Zugriff der eines „Soul Musicals“, die Schauspieler sangen die Monologe. In Ljubljana zeichnete der berühmte slowenische Regisseur Dusan Jovanović für die Inszenierung verantwortlich. In dieser Produktion trugen die Schauspieler Masken, es stand die Frage im Mittelpunkt, wie Alltag auf der Bühne ästhetisch umgesetzt werden kann.

Ich gehe normalerweise nicht auf Proben, ich will, dass die Beteiligten sich dem Stoff völlig frei nähern. Ich möchte ihnen nicht all meine Entscheidungen erklären, und ich bin mir auch gar nicht sicher, ob ich auf alles eine Antwort hätte, und wenn ja, ob meine Antwort nicht vielleicht die falsche wäre.

 

Kommt es oft vor, dass ein Stück, das – beispielsweise – auf Kroatisch geschrieben wurde, auch in Serbien, Slowenien oder Bosnien-Herzegovina gezeigt wird? Gibt es in Ihren Augen eine spezifisch kroatische Dramatiker-Szene oder verschwimmen die verschiedenen Theaterszenen der Region miteinander?

Ivor Martinić: Die Sprache ist sehr ähnlich, fast identisch, daher ist es für andere Theatermacher leicht, ein Stück zu lesen, das beispielsweise auf Kroatisch geschrieben wurde. Ein Stück in jedem dieser Länder zu produzieren ist hingegen nicht so leicht. Dazu bräuchte man eine Menge Geld, über das die kulturelle Szene im Moment nicht verfügt. Die meisten Theater sind abhängig von staatlichen Subventionen, sie haben ein Repertoire im herkömmlichen Sinne. Wenn sie die richtigen Stücke auswählen, ist ihr Risiko relativ klein. Die Produktion eines zeitgenössischen Textes ist aber immer ein Risiko, auch wenn die Zuschauer Stücke mögen, die in einer Welt spielen, die ihnen vertraut ist.

Ich glaube schon, dass es eine spezifisch kroatische Dramatiker-Szene gibt. Es gibt hierzulande im Moment viele erfolgreiche Stückeschreiber: Tena Stivicic, Ivana Sajko, Vedrana Klepica, Goran Fercec… Aber wir haben keine einheitliche Ästhetik, daher es ist schwer, etwas Allgemeingültiges über unsere Texte zu sagen – abgesehen davon, dass wir alle aus demselben Land kommen.

 

 

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Die Übersetzerin Blažena Radas.

Woher kam der Anstoß, Ivor Martinićs Stück zu übersetzen? War es die erste Kooperation oder haben Sie schon andere Texte desselben Autors übersetzt?

Blažena Radas: Ich habe vor einigen Jahren ein Interview mit Ivor Martinić gelesen und fand ihn sehr interessant, auf eine herrlich unaufgeregte Weise. Daraufhin kontaktierte ich ihn und bat ihn, mir das Stück „Drama über Mirjana und die Menschen um sie herum“ zu schicken. Da ich von dem Stück begeistert war, beschloss ich, es zu übersetzen. Auf eigenes Risiko sozusagen, weil die Finanzierung nicht gesichert war.

 

Wie eng arbeiten Sie beim Übersetzen normalerweise mit einem Autor zusammen?

Blažena Radas: Das hängt ganz vom Stück ab und auch davon, ob ich eine Aufführung gesehen habe. In diesem Fall hatte ich das Glück, das Stück im kroatischen Nationaltheater in Split zu sehen und so einen Eindruck zu bekommen. Das hat mir bei der Übersetzung sehr geholfen.

Im Grunde ist eine Aufführung fast wichtiger als der Austausch mit dem Autor, die Aufführung beantwortet ungeklärte Fragen am besten.

 

Wie schwierig ist es, von der Perspektive des Übersetzers aus, Übersetzungen osteuropäischer Dramatik an die Theater im deutschsprachigen Raum zu vermitteln?

Gibt es Themen oder ästhetische Formen, die Sie als spezifisch kroatisch oder serbisch beschreiben würden – Themen und ästhetische Formen, die so in der zeitgenössischen deutschsprachigen Dramatik vielleicht nicht zu finden sind?

Blažena Radas: Für diese Frage bin ich sehr dankbar! Es ist beides, schwierig und einfach, ein osteuropäisches Stück an deutsche Theater zu vermitteln. Einfach ist es, wenn die Region, aus welchen Gründen auch immer, im Fokus der westeuropäischen Aufmerksamkeit steht. Das waren in der letzten Zeit der Krieg und die Transition von einem sozialistischen in einen demokratischen kapitalistischen Staat. Allerdings habe ich auch oft die Erfahrung gemacht, dass man osteuropäische Stücke nur in diesem Kontext wahrnimmt, als hätten sie nur dann eine Chance, wenn sie bestimmte Klischees bedienten, wenn sie das „Andere“ reflektieren oder das „Balkanische“.

Darum bin ich EURODRAM sehr dankbar, weil mit dem „Drama um Mirjana und die Menschen um sie herum“ ein Stück ausgewählt wurde, das mutig genug ist, von kleinen und gleichzeitig universellen Themen zu sprechen.

Spezifisch kroatische oder serbische Themen sind meiner Ansicht nach die noch immer andauernden Transitionsprozesse und das Vakuum, das sie zurücklassen. In beiden Ländern ist das Verhältnis zur Vergangenheit nicht aufgearbeitet, und die Frage nach der Identität wird auf Nationalität und Religion reduziert. Beide Gesellschaften erfahren einen Wertewandel: Der dominante Diskurs stellt die nationale und religiöse Zugehörigkeit über alles andere, Arbeit und Bildung werden beispielsweise abgewertet, sie spielen für das Selbstverständnis kaum eine Rolle. Diese Themen sind spezifisch für Osteuropa, aber wenn man sie weiterdenkt, sind sie auch universell.

Das Gespräch führte Ulrike Syha

 

BIOGRAPHIE Ivor Martinić:

Der preisgekrönte kroatische Autor Ivor Martinić hat an der „Academy of Dramatic Art “ in Zagreb Dramaturgie studiert. Sein Stück „The title of the drama about Ante is Written here“ wurde vom Stadttheater in Split, vom Blue Elephant Theatre in London und vom Théâtre des Chardons in Brüssel aufgeführt. Sein Stück „Drama über Mirjana und die Menschen um sie herum“ wurde am Yugoslav Drama Theatre (Belgrad), am Nationaltheater Zagreb und am Stadttheater in Ljubljana inszeniert.

Sein neuestes Stück „My son only walks a little slower“ wurde am Zagreb Youth Theatre uraufgeführt. Die Inszenierung hat über zwanzig Preise gewonnen, darunter den Golden Laurel Award für das beste Stück beim MESS Festival in Sarajevo und den Preis der „Croatian Associaton of Dramatic artists“, ebenfalls für das beste Stück. Das Stück wurde außerdem erfolgreich in Buenos Aires, Asuncion, Montevideo, Mexico, Madrid und Belgrad gezeigt. Auch die Inszenierung in Buenos Aires wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Preis der argentinischen Kritiker für die beste freie Produktion.

Martinićs Stücke wurden in 15 Sprachen übersetzt.

 

BIOGRAPHIE Blažena Radas:

Blažena Radas (*1967 in Wien) hat Germanistik und Slavistik an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg studiert. Sie ist freischaffende Literaturübersetzerin und lehrte Filmgeschichte und Filmanalyse zunächst an der London Metropolitan University und seit 2011 an der Kunstakademie in Split. Aus dem Bosnischen, Kroatischen und Serbischen hat sie zahlreiche zeitgenössische Romane und Theaterstücke ins Deutsche übersetzt, unter anderem von Olja Savičević Ivančević, Mate Matišić, Srećko Horvat, Robert Perišić. Sie lebt in Split und Heidelberg und engagiert sich für den kulturellen Austausch zwischen Deutschland und Kroatien.

PORTRÄT: Alexander Manuiloff

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Der bulgarische Autor Alexander Manuiloff.

2013. In Bulgarien wüten die Februar-Proteste. Hunderttausende von Menschen erheben ihre Stimme. Gegen die Armut, gegen zu hohe Stromrechnungen, gegen einen Staatsapparat, der von Korruption geprägt und von mafiösen Strukturen unterwandert ist.

In den Morgenstunden des 20. Februars erscheint der 36jährige Plamen Goranov vor dem regionalen Landtag von Varna an der Schwarzmeerküste. Er hat ein Banner bei sich – und Benzin. Wenige Minuten später steht er in Flammen. Am 3. März erliegt er seinen Verletzungen.

Plamen Goranov ist nicht der einzige bulgarische Aktivist, der sich während der Februar-Proteste selbst verbrennt. Aber Goranov avanciert posthum zu einer Ikone des Widerstands – seine Mitstreiterinnen stilisieren ihn zu einem bulgarischen Jan Palach, zu einem bulgarischen Mohamed Bouazizi.

Und von eben dieser öffentlichen Selbstverbrennung des Plamen Goranov handelt Alexander Manuiloffs Theatertext „Der Staat“, den Hannes Becker ins Deutsche übersetzt hat. Zumindest ist der Text dem „Gedenken an Plamen Goranov“ gewidmet und erzählt auch immer wieder von Goranov und seinen Vorbereitungen für die Selbstverbrennung. Was aber noch lange nicht heißt, dass er davon handelt. Nein! Manuiloffs „Der Staat“ handelt nicht von Goranovs Selbstverbrennung.

Alexander Manuiloffs Theatertext „Der Staat“ ist auch gar kein Theatertext. Stattdessen bezeichnet Manuiloff ihn als „ein Text-Design“ und stellt ihm eine dezidierte „Gebrauchsanweisung“ voran. Dass „Der Staat“ zum Beispiel „nicht im klassischen Sinn des Wortes ‚aufgeführt‘ werden“ solle und dass zum Beispiel „keine Schauspieler benötigt“ würden. Gleichzeitig bezeichnet er seinen „Staat“ in dieser Gebrauchsanweisung als „Stück“ und verfügt: „Die ganze Veranstaltung [womit der Autor die Umsetzung seines ‚Text-Designs‘ meint] soll in einem Theater stattfinden.“ Zu Recht! Denn Manuiloffs „Text-Design“ „Der Staat“ ist ganz eindeutig ein Theatertext.

Immer wieder thematisiert dieser Theatertext seine eigene Umsetzung, die er „Vorführung“ nennt. Bereits kurz nach Beginn stellt der Text fest, dass die Vorführung, die gerade eben begonnen hat, erst in fünf Minuten beginnen werde. Und wie ein Mantra durchzieht diese vermeintliche und immer wieder aufs Neue verschobene Verschiebung des Anfangs die gesamte Vorführung: Sie werde erst in drei Stunden beginnen, in acht Stunden und fünf Minuten, in zwei Stunden und 45 Minuten, in sechs Stunden. Wird die Vorführung jemals beginnen? Nein. „Die Vorführung kann nicht beginnen“. Weil die Genehmigung fehle, weil die Mittel gekürzt worden seien und weil es keinen Regisseur gebe. Nicht zuletzt, weil sie irrelevant sei und keinen Sinn habe. Schließlich könne die Vorführung nichts verändern, sehr viel wichtigere Dinge ständen auf der Agenda. Und deshalb ist es nur konsequent, wenn Manuiloff mitten in seinem Theatertext schreibt: „Die Vorführung muss jetzt aufhören, weil sie einen Verstoß gegen alle etablierten Grundregeln des Theaters darstellt.“

Das ist der Punkt. Alexander Manuiloffs „Der Staat“ widersetzt sich dem System „Theater“. Keine Schauspielerinnen, keine Bühne, kein Regiezugriff. Stattdessen einfach nur das Publikum in einem Raum. In dessen Mitte ein Tisch. Auf dem Tisch ein Kasten. Im Kasten Briefe. Jeder Brief eine Seite Text aus dem „Staat“. Sortiert. Von vorne nach hinten. Vom Anfang, der nicht beginnen will, bis zum Ende, das nicht aufhören darf. „Es ist das Publikum, das die Briefe laut vorlesen und so eine eigene kleine Gesellschaft erschaffen soll, seine eigenen Regeln wie mit der Situation verfahren wird und seine eigene unverwechselbare Vorführung“, schreibt Manuiloff in der Gebrauchsanweisung für eben diese unverwechselbare Vorführung, die keine Theatervorstellung, sondern vielleicht eine Performance, eine Installation ist. Schließlich ist dieser Theatertext ja auch kein Theatertext, sondern ein „Text-Design“. Nicht wahr?

Nicht wahr. Dieses „Text-Design“ ist ganz eindeutig ein Theatertext. Denn der Dramaturg und Autor Alexander Manuiloff kennt die „etablierten Grundregeln des Theaters“ sehr genau. Und eben diese Kenntnis erlaubt es ihm, die engen Grenzen des herkömmlichen Theaters aufzubrechen, sie zu verschieben und zu überwinden. Diese engen Grenzen ermöglichen es ihm überhaupt erst, Fragen zu stellen, die das Theater vergessen zu haben scheint. Weil wir sie vergessen haben. Das Publikum. Oder fragen Sie sich etwa im Theater, ob die Vorstellung, der sie gerade beiwohnen, etwas verändert? Ich zumindest nicht. Nicht mehr. Zwar ist mir durchaus bewusst, dass „sehr viel wichtigere Dinge auf der Agenda [stehen]“. Aber warum sollten diese „wichtigeren Dinge“ ausgerechnet im Theater verhandelt werden? Darum! Weil das Theater Auseinandersetzung mit der Welt ist. Und weil Zurücklehnen jegliche Auseinandersetzung lahmlegt. Wir müssen uns entscheiden: Konsum oder Partizipation. Und deshalb lässt Manuiloff sein Publikum, das er aus seinen plüschigen Sesseln gerissen hat, gegen Ende der „Vorführung“ einen Brief vorlesen, der weniger ein Angebot als vielmehr eine Aufforderung ist: „Lasst uns jetzt das Licht anmachen, und eine Diskussion führen!“

Alexander Manuiloffs Text „Der Staat“ handelt also vom Theater. Er ist selbstreferentiell, theoretisch und sperrig. Er bricht die Gesetze des herkömmlichen Theaters mit seiner offenen Form auf und bedient sich dokumentarischer, partizipatorischer und performativer Elemente. Um sie im nächsten Moment wieder in Frage zu stellen. Denn „Der Staat“ will dem herkömmlichen Theater keine lange Nase drehen, will es nicht vor den Kopf stoßen, will nicht der Provokation wegen provozieren. Nein. „Der Staat“ will eine Diskussion initiieren, eine Auseinandersetzung. Über und mit dem Theater. Ja. Aber nicht nur. Sondern auch über die Welt und mit der Welt. Denn Theater kann nur Welt meinen. Und deshalb handelt „Der Staat“ auch nicht nur vom Theater. Er handelt von der Welt, von der Möglichkeit eines respektvollen Miteinanders und von der öffentlichen Selbstverbrennung des Plamen Goranov.  Und das ist es, was mir diesen Text so sympathisch macht. Dass er vornehmlich von einer Frage handelt, die ich gerade im Theater wieder so dringend hören möchte: Wie wollen und können und sollen wir miteinander leben?

Carsten Brandau

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Der Übersetzer Hannes Becker.

ALEXANDER MANUILOFF ist ein preisgekrönter Autor aus Sofia / Bulgarien. Seine Stücke und Theaterarbeiten wurden zu vielen internationalen Festivals eingeladen. Auf seinen Drehbüchern basierende Filme waren ebenfalls bereits in zahlreichen Ländern zu sehen. Manuiloff’s Text „Der Staat“ wurde 2015 beim renommierten Stückemarkt des Berliner Theatertreffens als Lese-Performance gezeigt.

HANNES BECKER, geboren 1982 in Frankfurt am Main, lebt in Leipzig. Autor und Übersetzer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin (www.zfl-berlin.org). Mitglied des Ensemble-Netzwerks und des Iltis-Projektchors, außerdem Beiträge auf www.dasuntergehendeschiff.blogspot.com.

 

Die Übersetzerinnen 2016

Auch EURODRAM kehrt langsam aus der Sommerpause zurück; im November beginnt schon die neue Runde – diesmal liegt der Fokus wieder auf Stücken, die ins Deutsche übersetzt, aber in dieser Übersetzung noch nicht aufgeführt wurden. Die genauen Ausschreibungsmodalitäten folgen in den nächsten Wochen.

Vorher wollen wir aber noch mal einen Blick zurück werfen und die Übersetzerinnen der Stücke der Auswahl 2016 vorstellen.

 

In alphabetischer Reihenfolge:

NICOLE DESJARDINS übersetzt „Deine Helden – Meine Träume“ von Karen Köhler ins Französische.

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Nicole Desjardins, Foto: A. Yons

Nicole Desjardins, Tochter einer Niederösterreicherin, ist Schauspielerin, Regisseurin und Autorin und übersetzt aus dem Deutschen. Sie hat Germanistik studiert und leitet heute die Theatergruppe „Vue sur Jardin„, die einen besonderen Schwerpunkt auf zeitgenössischer Dramatik hat. Zu ihren letzten Arbeiten gehörten „A l’aube,  j’ai recontré mon voisin Oreste“ von Nicole Buresi und „Un théâtre dort-il vraiment la nuit?“ von Maria Munk Farrugia.

www.cievuesurjardin.com

 

GERGANA DIMITROVA übersetzt „Illegale Helfer“ von Maxi Obexer ins Bulgarische.

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Gergana Dimitrova, Foto: N. Mihov

Gergana Dimitrova ist Regisseurin, Autorin und Projektmanagerin, sowie Gründerin und Leiterin der Theatergruppe „36 monkeys – Organisation für zeitgenössische alternative Kunst und Kultur“ (Sofia / Bulgarien) und Mitbegründerin der ACT-Assoziation für freies Theater – Bulgarien. Gergana Dimitrova hat Kulturwissenschaft und Theaterregie in Bulgarien und Deutschland studiert. Sie hat neben zahlreichen Theaterstücken auch „Das postdramatische Theater“ von Hans-Thies Lehmann ins Bulgarische übersetzt.

www.36monkeys.org/en/

 

KATHARINA STALDER übersetzt „Antarktis“ von Christina Kettering ins Französische.

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Katharina Stalder, Foto: V. Rok

Katharina Stalder wurde in der Schweiz geboren und ist Regisseurin, Theaterwissenschaftlerin, Theaterpädagogin und Übersetzerin. Sie hat außerdem eine Schauspielausbildung und übersetzt neben Theaterstücken auch für soziale Bündnisse. Als Regisseurin und Übersetzerin konzentriert sich ihre Arbeit hauptsächlich auf zeitgenössische Dramatik. Außerdem ist sie Leiterin der Theatercompagnie „L’ambiguË“ in Montpellier und schreibt zurzeit an einer Dissertation über Regieausbildung im deutschen und französischen Sprachraum.

 

DR. IWONA UBERMAN übersetzt „Von der langen Reise auf einer heute überhaupt nicht mehr weiten Strecke“ von Henriette Dushe ins Polnische.

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Dr. Iwona Uberman, Foto: privat

Dr. Iwona Uberman hat Ungaristik, Kunstgeschichte und Skandinavistik studiert und in Deutschland im Bereich Theaterwissenschaft promoviert. Sie hat als Dramaturgin, Theaterkritikerin / Kulturjournalistin, Sprachlehrerin und Museumspädagogin gearbeitet und neben zahlreichen Theaterstücken (Lutz Hübner, Oliver Kluck, Lukas Bärfuss, Ewald Palmetshofer, Marianna Salzmann und viele andere) auch Prosa übersetzt. Ausserdem war sie Stipendiatin der Villa Decius in Krakau.

www.kulturtransfer.eu

 

AURÉLIE YOULIA übersetzt „Die Erfindung der Sklaverei“ von Christiane Kalss ins Französische.

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Aurélie Youlia, Foto: C. Forsberg

Aurélie Youlia ist eine bikulturelle, deutsch-französische Theater- und Filmschauspielerin, Autorin und Regisseurin. Sie arbeitet auch im Radiobereich und als Kulturjournalistin und hat einen Theater-Dokumentarfilm über das „Atelier Varan“ gedreht. Außerdem ist sie als Mitarbeiterin, Schauspielerin und Sängerin bei einem deutsch-französischen Kabarett aktiv und arbeitet regelmäßig mit dem Goethe-Instituten und der deutschen Botschaft zusammen.

www.aurelieyoulia.com

 

 

PORTRÄT: Karen Köhler (Weitere Empfehlungen)

Nicole Desjardins wird « DEINE HELDEN – MEINE TRÄUME » (Verlag für Kindertheater) von Karen Köhler im Auftrag von EURODRAM ins Französische übersetzen.

Hier je eine Stellungnahme von Übersetzerin und Autorin zum Stück, das Teil einer Trilogie ist.

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Karen Köhler. – Foto: J. Klug

Karen Köhler (Autorin):

„Deine Helden –Meine Träume ist ein Auftragswerk des Deutschen Nationaltheaters Weimar. Meine Arbeitsaufgabe war es, das Thema Rechtsextremismus zu bearbeiten. Meine Idee war es, daraus eine Miniserie aus drei Stücken zu machen, die jeweils eine Spielzeit nacheinander aufgeführt werden sollten. Wobei der Spielort und die Anzahl der Schauspieler bereits vom Theater vorgegeben waren.

Das erste Stück sollte ein Klassenzimmerstück für eine Person sein, und den Auftakt bilden. Das zweite Stück ein 3-Personen-Stück, das im Theater gezeigt wird, und das dritte wiederum ein Klassenzimmerstück.

Wir wollten das junge Publikum in den Schulen abholen, sie ins Theater bringen und wieder in der Schule enden. Das hat sehr gut funktioniert. Die Trilogie läuft 2016/17 in der 4. Spielzeit am DNT Weimar.

Deine Helden – Meine Träume lebt davon, dass das Klassenzimmer als realer Raum ohne theatralen Überbau funktioniert. Es ist sehr interaktiv und kommt nah an die Schüler*innen ran. Das wäre im Theater schwerer möglich. Man müsste die Zuschauer*innen-Situation so aufbrechen, dass keine Trennung zwischen Spiel- und Zuschauerebene vorhanden wäre.

Jonas, die Hauptfigur, kommt in sein ehemaliges Klassenzimmer zurück, und das Umfeld, das Erinnerungen auslöst, lässt ihn seine Geschichte erzählen.

Im zweiten Teil HELDEN! Oder warum ich einen grünen Umhang trage und gegen die Beschissenheit der Welt ankämpfe sind die Figuren, über die Jonas im ersten Teil der Trilogie spricht, auf der Bühne: Jonas, Jessica und Mo tragen -Jahre später- die alte Geschichte auf der Bühne miteinander aus. Auch hier wird der Bühnenraum als der Raum bespielt, der er ist: eine Bühne.

Im dritten Teil III Helden: Stadt. Land. Traum. steht Jessica dann als Referendarin in der Turnhalle vor ihren Schüler*innen. Und von einer Parole in der Pausenhalle ausgehend dröselt sie das Thema Fremdenfeindlichkeit und die Flüchtlingspolitik Europas auf. Bei dem Versuch, herauszufinden, wer die Parole geschmiert hat, überschreitet sie Grenzen und führt schließlich ein Experiment mit den Schüler*innen durch, bei dem es um Wahrnehmung des Gegenübers geht. Auch dieses Stück ist speziell für die Schule konzipiert und schwer auf den klassischen Bühnenraum übertragbar.

Zusammen funktionieren die drei Teile als eine Miniserie, die sich um den Themenkomplex Helden-Freundschaft-Liebe-Vertrauen-Fremdheit rankt und jeweils den Ort, an dem sie spielen konkret aufgreifen. Jeder Teil funktioniert auch als Solotheater-Erfahrung, man muss die beiden anderen Teile nicht kennen, um inhaltlich folgen zu können.

Die Entstehung des ersten Teils habe ich auf der Seite www.deine-helden-meine-traeume.de dokumentiert. Alle Figuren der Trilogie sind aus Interviews und Antworten auf den Fragebögen entstanden. Ich habe mit über 100 Jugendlichen zusammengearbeitet und das Thema Rechtsextremismus verdeckt recherchiert, um nicht eine vorgefertigte Meinung abzufragen, oder im Vorfeld zu politisieren und dadurch manipulierte Antworten zu erhalten.

Der Erste Teil der Trilogie läuft mittlerweile an mehreren Theatern im deutschsprachigen Raum. Das Theater Konstanz ist das erste Theater nach dem DNT Weimar, das nicht nur den ersten Teil nachspielt, sondern auch den zweiten. Das macht mich sehr froh und zeigt mir, dass Theater auch nachhaltig sein kann. Wir Autor*innen leben davon, dass unsere Stücke nicht nur uraufgeführt werden, sondern auch vom Mut der Theater, die unsere Arbeit zweit-, dritt- und viertaufführen.

Umso dankbarer bin ich EURODRAM für die Möglichkeit, Werke sprachübergreifend in Europa zu verbreiten und in einen Austausch zu geraten. Das trägt einen wichtigen Teil zum europäischen Kulturverständnis bei. Wir dürfen uns in der Kunst nicht auf den nationalen Raum zurückziehen, dafür sind die ökonomischen und sozialen Beziehungen der Welt viel zu komplex geworden. Wir können aber das große Dilemma am Beispiel des Kleinen zeigen.“

 

Nicole Desjardins (Übersetzerin):

„Man könnte fast sagen, dass Deine Helden – Meine Träume ein Boxkampf in Textform ist, aufgeteilt in zehn Runden. Der Darsteller achtet die ganze Zeit auf das Timing, denn länger als eine Stunde soll das Erzählen seiner Geschichte nicht dauern. Er händigt sogar jemand im Publikum sein Telefon aus, mit dem Auftrag, genau auf die Zeit zu achten.

Auch andere Bezüge zum Sport gibt es: Es geht um allgemeine Sportethik, aber auch um konkrete Bewegungsabläufe beim Boxen. Und darum, wie wichtig es ist, beim Boxen seine privaten Gefühle niemals mit in den Ring zu nehmen.

Wir befinden uns allerdings nicht im Ring. Wir befinden uns nicht mal auf einer Bühne. Wir befinden uns in einem normalen Klassenzimmer mit Schultischen und Tafel, und die anvisierte Stunde entspricht in etwa der Dauer einer Schulstunde. Das Stück wird also direkt vor Schülern und Lehrern gezeigt. Der Schauspieler ist bereits im Raum, wenn die Zuschauer kommen. Die Schüler merken da sicher auf : Da sitzt plötzlich ein Fremder in ihrer Klasse.

Die im Stück verwendete Sprache ist Alltagssprache, keine Kunstsprache. Der Ton ist natürlich und zeitgemäß und gibt dem Monolog einen spontanen Gestus.

Der Titel Deine Helden – Meine Träume kann auf mehreren Ebenen gelesen und verstanden werden: Der Junge, um den es in dem Stück geht, Jonas, verliert sehr früh seinen Vater und erfährt erst später, dass der Vater als Jugendlicher geboxt hat. Daraufhin meldet er sich auch zum Boxtraining an. Er sucht und braucht ein Vorbild. Beim Training lernt er dann Mo kennen, dem er nachzueifern versucht, da Mo ein sehr guter Boxer ist. (Ist sein Name vielleicht sogar eine Anspielung auf Mohammed Ali?).

Außerhalb des Rings sehnt sich Jonas danach, seiner Mutter besser helfen zu können, die mit einem gewalttätigen Mann mit Alkoholproblemen verheiratet ist. Er wünscht sich, ein Superheld zu sein, genau wie die Figuren aus seiner Kindheit.

Aber diese Träume verwirklichen sich natürlich nicht…

Stattdessen trifft er auf einen falschen Helden, einen Verführer: Haiko. Jonas lässt sich auf ihn ein, er ist nett, cool, etwas älter und außerdem der Bruder des Mädchens, in das Jonas unglücklich verliebt ist. Jonas folgt Haiko wie dem berühmten Rattenfänger im deutschen Märchen.

Und als sich zu seinem Liebeskummer auch noch rasende Wut auf seinen besten Freund Mo gesellt, der als «Fremder» ohnehin eine gute Zielscheibe für Hass und Spott ist, gerät Jonas schnell in einen Teufelskreislauf. Jonas weiß eigentlich, wohin Nationalismus und Rassismus führen können, aber als er selbst in eine entsprechende Situation gerät, erkennt er die Gefahr nicht sofort.

Inhaltlich schneidet der Text Themen und Ängste an, die in Deutschland (aber nicht nur in Deutschland) immer wieder eine große Rolle spielen. Die Frage nach den Gefahren, die vom Nationalismus ausgehen. Die Angst vor dem Fremden. Die Auslöser in privaten Biografien, die zu einem schleichenden Abrutschen in Gewalt führen können.

Es wird immer Diktatoren wie Hitler geben oder andere gefährliche Verführer. Heute heissen sie vielleicht Daesh oder «Islamischer Staat».

«Meine Träume» bleiben also die Träume eines Jugendlichen, der auf schmerzhaftem Weg und durch einen großen Irrtum etwas ganz Entscheidendes fürs Leben lernt. Und seine Erfahrungen nun mit anderen teilen möchte, um zu verhindern, dass sie in dieselbe Falle gehen.

Ein berührender Text, der besonders für Jugendliche sehr geeignet ist.

Deshalb freue ich mich, dieses Stück ins Französische übersetzen zu dürfen. Aber auch als Regisseurin spricht es mich an, ich hätte Lust, es vielleicht später selbst zu inszenieren. Für einen Schauspieler ist die Rolle von Jonas ein Geschenk.“

 

BIOGRAFISCHES:

Karen Köhler wollte Kosmonautin werden, hat Fallschirmspringen gelernt und Schauspiel studiert. Nach vielen Jahren im Schauspielberuf, schreibt sie mittlerweile Theaterstücke und Prosa. 

Nicole Desjardins ist Schauspielerin, Regisseurin, Autorin und Übersetzerin (Deutsch-Französisch) und lebt in Paris. http://www.cievuesurjardin.com

 

 

 

 

 

 

 

PORTRÄT: Christiane Kalss (Weitere Empfehlungen)

Zwei Fremde kommen in eine kleine Gemeinde. Wir erfahren nicht, woher sie kommen. Von weit her oder nur aus dem Nachbardorf? Sie werden aufgenommen und unter dem Deckmantel der Nächstenliebe in einer Gemeinde herumgeschoben, die um die Aufrechterhaltung ihres idyllischen Bildes ringt.

Teile dieser Gemeinde sind Heidrun und ihr Sohn. Heidrun macht aus einem alten Bauerhof ein Unternehmen, eine Geburtsklinik mit verschiedenen Angeboten (von der Schaumgeburt bis zur Stallgeburt als Jesuskind sind alle Optionen buchbar), während ihr Sohn immer neue, immer absurder werdende Geschäftsideen hat.

Im Verlauf des Stückes „Die Erfindung der Sklaverei“ dreht sich der Status der Figuren immer wieder. Hinter der Gemeinde steht eine unsichtbare Macht – oder ist es doch die Gemeinde selbst? Ein neoliberales, autoritäres Regime mit einer Blümchenfassade, dem ihre Bewohner ausgeliefert sind.

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Theaterautorin Christiane Kalss

Das Universum von Christiane Kalss scheint eine leichte, humorvolle Welt zu sein. Eine Oberfläche, an der „alles in bester Ordnung“ ist, schön und heimelig, eine Idylle, die permanent um ihre Außenwirkung bemüht ist. Aber diese Leichtigkeit kaschiert nur die Abgründe. Den Abgrund in den Figuren, ihre Unfähigkeit, sich in dieser neoliberalen Welt zurechtzufinden – aber auch den Abgrund des Systems, das die Figuren zunächst unterstützt, um sie im nächsten Moment in den schönsten Tönen zu verraten. Nichts ist sicher. Und dies gilt für die Bewohner der Gemeinde selbst genauso wie für die von außen Kommenden.

Die Regierung in „Der letzte Mensch auf dem Mars“ zum Beispiel, einem anderen Stück von Christiane Kalss, die sich zunächst eine Marsmission auf die Fahne schreibt, um sie kurze Zeit später für ein prestigeträchtigeres Vorhaben aufzugeben, ganz gleich, ob das Opfer fordert. In diesem Fall die weibliche Hauptfigur, die alleine auf dem Mars zurückgelassen wird.

Oder eben die Gemeinde in „Die Erfindung der Sklaverei“, die sexuelle Verfehlungen ihrer Vorsitzenden beschönigt darstellt und sie dadurch aus der Welt schaffen will, während sie parallel dazu die Bürger für ihre eigenen Zwecke (die Aufrechterhaltung der Gemeinde und ihrer Idylle) missbraucht. Und alles immer nur solange, bis sich eine bessere Möglichkeit bietet. Unheimlich daran ist, dass alle sich dieses Vorgehen ohne ein einziges Widerwort gefallen lassen. Damit gelingt Christiane Kalss eine Zustandsbeschreibung unserer Welt und ihrer Mechanismen mit aktuellen politischen Bezügen, die geschickt eingebunden werden, ohne platt daher zu kommen.

Die soziale Situation ist geprägt von Unsicherheit, von einem absurden Verhältnis der Individuen zur Bürokratie und den Institutionen, die sie umgeben. Institutionen, die noch vorgeben, ihnen zu dienen, sie aber im Grunde nur ausbeuten, ja geradezu versklaven. Dies gilt sowohl für das „System Dorf“ selbst als auch für die Fremden, die dort hinkommen. Das hat etwas Kafkaeskes, Monströses, ist aber immer gepaart mit Humor und verpackt in lakonische Dialoge.

Die Anleihen dafür nähme sie direkt aus der Realität, so die Autorin. „Ich klau gute Geschichten“, sagt sie selbst.  Zuerst gab es den Titel. Auch er steht für reale Tendenzen in der Gesellschaft, eine Zunahme von Arbeitsverhältnissen, die man als moderne Versionen von Sklaverei bezeichnen könnte: Arbeiten ohne Bezahlung, Herstellung von bedingungsloser Abhängigkeit und permanenter Verfügbarkeit.

„Die Erfindung der Sklaverei“ war dieses Jahr zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen und wird am 19. Oktober 2016 auch in einer szenischen Lesung am Staatstheater Karlsruhe präsentiert. Für März 2017 ist die Uraufführung im Theater Drachengasse in Wien geplant.

Sandra Schüddekopf

 

EURODRAM-MITGLIED AURÉLIE YOULIA ÜBERSETZT DAS STÜCK IM AUFTRAG VON EURODRAM INS FRANZÖSISCHE.

 

BIOGRAFIE DER AUTORIN

CHRISTIANE KALSS, geboren 1984, aufgewachsen in der Obersteiermark, lebt in Wien. Sie studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien und nahm 2008-2010 am Lehrgang Forum Text von uniT in Graz teil. Sie schreibt Dramatik.

Nominierungen, Preise, Stipendien (Auswahl): 2007 Nominierung für den Retzhofer Dramapreis — 2009 Jakob-Michael-Reinhold-Lenz-Preis für Dramatik der Stadt Jena für das Stück “Drinnen” — 2009 Dramatikerstipendium des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur — 2009 Teilnahme an stück/für/stück am Schauspielhaus Wien — 2010 Startstipendium für Literatur des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur — 2010 Einladung zu den Werkstatttagen des Wiener Burgtheaters — 2011 Wiener Dramatikerstipendium — 2014 Nominierung für den Leonhard-Frank-Preis des Mainfranken-Theaters Würzburg — 2015/2016 Stipendiatin der Drehbuchwerkstatt München — 2016 Nominierung für den Autorenpreis „Stück Auf!“ der Stadt Essen —Einladung zum Heidelberger Stückemarkt 2016.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

PORTRÄT: Henriette Dushe

Schaut man sich die Konstellationen in Henriette Dushes Stücken an, sind es immer wieder die Frauenfiguren, die faszinieren und im Vordergrund stehen. Das Drama „In einem dichten Birkenwald, Nebel“ beginnt zunächst mit drei Männern, die aus ihrem Leben fallen, weil sie aus verschiedenen Gründen zusammenbrechen. Da tauchen drei Frauen unterschiedlichen Alters aus dem Nebel auf und erfinden sich eine gemeinsame Geschichte oder stehen als Ärztinnen dem Chor der Burnout-Patienten bei. In „Lupus in Fabula“ trifft man drei Schwestern am Sterbebett des Vaters an, die durch dessen Verschwinden  in unterschiedlicher Weise auf sich selbst zurück geworfen sind.

Auch in „Von der langen Reise auf einer heute überhaupt nicht mehr  weiten Strecke“ stehen eine Mutter und ihre vier Töchter im Mittelpunkt des Geschehens, der Vater der Familie hat sich in sich selbst zurück gezogen und ist verstummt.

„Die Texte wandern durch die Köpfe in die Münder der anderen und wieder zurück durch den Mund eines Gegenübers in den Kopf einer anderen, nur die Mutter: ist und bleibt immer eine Mutter…“ – so beschreibt Henriette Dushe ihren Bühnentext für fünf Frauen, in dem nur die Mutter personifiziert wird, die vier Töchter teilen sich die Bezeichnungen „Eine, Andere, Einige“.

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Henriette Dushe (Copyright: C. Pitzke)

Das Stück, ausgezeichnet  2014 mit dem Autorenpreis „Stück auf!“ der Stadt Essen und am Theater Essen uraufgeführt in der Inszenierung von Ivna Žic, beschreibt die melancholische Geschichte einer Familie aus der ehemaligen DDR und lebt von seiner Musikalität.

Die  Mutter und ihre vier Töchter sprechen miteinander – aber der Text entwickelt eine Art Eigendynamik im Durcheinander-, Übereinander und Aneinander-vorbei-Reden. Erzählt wird die Erinnerung an die Ausreise der Familie aus der DDR, eine Reise in ein Land, das für den (nicht zu Wort kommenden) Vater  zu einem nie eingelösten Versprechen wurde. Die Figuren haben keine Namen, als hätten sie mit der Heimat auch die Identität verloren.

Sandra Schüddekopf, die die Szenische Lesung am Theater Leipzig beim 4+1 Festival einrichtete, schätzt den Text, weil er es schafft  „über die persönlichen Erinnerungen der Familie an ihre Ausreise hinaus etwas über die gesamtdeutsche Geschichte zu erzählen. Obwohl die Erinnerungen durch die Figuren wandern, sind die Figuren in ihren Beziehungen zueinander sehr klar. Der Text umkreist Gewissheit und Ungewissheit im Umgang mit Erinnerungen und spielt, auch in seiner Form, mit der Struktur von Erinnerungen.“

Die Mutter und ihre vier Töchter erinnern sich: an graue Anzügen mit wechselnden Gesichtern, an endlose Listen von Haushaltsgegenständen, das “Scheiß-Gärtchen” des Großvaters, die Waschbecken-Nische für Störenfriede im Klassenzimmer, die Brechanfälle der einen Tochter, den taubengrauen Bahnhof und an die traumatische Zugfahrt ohne Rückfahrschein aus der DDR, an den Vater, der das restliche Geld aus dem Zugfenster wirft, an die alle Sachen durchwühlenden Grenzbeamten und schließlich die Ankunft in einem niedersächsischen Provinzstädtchen.

Das Erinnerungsmaterial wird in Aufzählungen und rhythmischen Wiederholungen immer wieder neu sortiert und wirkt durch die Musikalität der Sprache wie ein sehr genau durchkomponierter gemeinsamer Gesang von der Mutter und ihren Töchtern.

Das Leipziger Festival  4+1, auf dem EURODRAM das Stück präsentierte, war ein Festival zur Nachwuchsdramatik im deutschsprachigen Raum, zu dem sechs Schreibschulen eingeladen waren: UniT Graz , die Universität für Angewandte Kunst in Wien sowie die Schreibschulen aus Hildesheim, Biel, Berlin und Leipzig.

Henriette Dushe hat selbst am UniT in Graz studiert und mit der Regisseurin der Uraufführung Ivna Žic an „Von der langen Reise…“ ursprünglich gemeinsam gearbeitet. Beide haben sich als Teilnehmerinnen des Forum Text kennengelernt – eine zweijährige künstlerische Begleitung mit Mentoring durch uniT in Graz.

Henriette Dushe stellt in einem Interview mit Magdalena Kotzurek dar, dass sich die UniT Graz nicht als Schule versteht, „die  von vornherein zu wissen meint, was sie vermitteln will. Hier stehen die einzelnen Autoren mit ihren Schwerpunkten in Thema und Form und Sprache im Vordergrund. Darüber hinaus ist die gesamte Ausbildung schon sehr früh vernetzt mit Schauspieler_innen und Regisseur_innen, so dass der interdisziplinäre Austausch über Theatralik die Textentstehung schon früh begleitet, das öffnet den Autor_innen natürlich alle Sinne, für die Bühne zu schreiben.“

Inka Neubert

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Beim 4 + 1 Festival am Schauspiel Leipzig.

HENRIETTE DUSHE stammt aus Halle/Saale. Von 2001 bis 2006 studierte sie in Potsdam KulturArbeit (Diplom im Fachbereich Angewandte Ästhetik). Von 2011 bis 2013 folgte ein Studium des Szenischen Schreibens an der uniT Graz. Von 2002 bis 2011 war sie Dramaturgin und Autorin beim freien Autoren- und Schauspielkollektiv unitedOFFproductions (Braunschweig/Berlin). Henriette Dushe lebt in Berlin.

Stipendien und Preise (Auswahl): 2008 Werkstattstipendium für Literatur der Jürgen-Ponto-Stiftung — 2009 Verleihung des Retzhofer Dramapreis für „MENSCHEN BEI DER ARBEIT“ (UA 2010 am Schauspiel Chemnitz) — 2010 Werkstattstipendium für „SPRACHLOS DIE KATASTROPHEN IM BEREICH DER LIEBE“ am Staatstheater Mainz — 2013 J.M. R. Lenz-Preis für Dramatik der Stadt Jena für „IN EINEM DICHTEN BIRKENWALD, NEBEL“ sowie Autorenpreis des Heidelberger Stückemarktes für „LUPUS IN FABULA“ — 2014 Autorenpreis „Stück auf!“ der Stadt Essen für „VON DER LANGEN REISE AUF EINER HEUTE ÜBERHAUPT NICHT MEHR WEITEN STRECKE“ — 2014 Christian-Dietrich-Grabbe-Preis für „IN EINEM DICHTEN BIRKENWALD, NEBEL“

Die Stücke von Henriette Dushe werden vertreten vom Henschel Schauspiel Theaterverlag.

 

EURODRAM wird „Von einer langen Reise auf einer heute überhaupt nicht mehr weiten Strecke“ ins Polnische übersetzen lassen. Die Übersetzerin ist Dr. Iwona Uberman.

 

 

PORTRÄT: Christina Kettering

Zum Porträt Christina Kettering, Schwarze Schwäne

DIE AUTORIN

Christina Kettering, 1980 geboren, studierte von 2000 bis 2005 am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Anschließend organisierte sie Lesungen und Veranstaltungen in Köln, war als Dramaturgin an verschiedenen freien Theatern tätig und organisierte und entwickelte Performances im öffentlichen Raum in Berlin-Kreuzberg. 2004 war sie Gast beim Forum junger Autor_innen Europas der Biennale «Neue Stücke aus Europa» in Wiesbaden und Frankfurt/Main. 2006 hat sie am Workshop für Nachwuchsdramatiker_innen des Berliner Stückemarktes teilgenommen.

Sie lebt seit 2008 in Berlin und arbeitet dort seit 2010 als freie Dramaturgin am Kindertheater akrena. Seit 2012 arbeitet sie auch als Workshopleiterin für Mitspielgelegenheit e.V.

Ihr Stück ANTARKTIS, 2014 am Kaltstart-Festival in Hamburg in einer szenischen Lesung vorgestellt, wurde 2015 in der Regie von Friederike Barthel im Hamburger Sprechwerk uraufgeführt. Andere Stücke von Christina Kettering sind Der Gast (2004), Josefines Besuch (2006), Lost in the Supermarket (2010) und das Kindertheaterstück Los Lilli, hex! (2007), die Rechte liegen beim Drei Masken Verlag.

Kettering
Christina Kettering (© Maria Zillich)

DAS STÜCK

1989 hat der Antarktisforscher Werner, der in der DDR-Forschungsstation «Georg Forster» arbeitet, Nadja, ebenfalls Antarktisforscherin aber aus der BRD, 13.000 km von der Berliner Mauer entfernt über Funk kennen- und liebengelernt; sie treffen sich erst später in Deutschland. 1991 ist das Baby – Ina – da, und die Station «Georg Forster» wird nach und nach zugunsten der westdeutschen Station abgebaut.

Werner klammert sich an die Vergangenheit, bleibt lieber, als einer der Letzten, noch im Eis, als zu Nadja in die westdeutsche Provinz zu ziehen – was ihm Nadja vorwirft, die nicht glücklich damit ist, alleine mit dem Baby zuhause zu bleiben und zugunsten Werners auf ihre Arbeit zu verzichten.

Aber die Situation ändert sich, später ist es Werner, der mit dem Kind zuhause bleibt, wegen psychischer Probleme ausgemustert, «aussortiert», wie er sagt, während Nadjas Karriere wieder Aufschwung nimmt.

Heute: Der Mittsechziger Werner ist allein. Nadja ist tot, Werners Verstand und sein Körper werden von Alzheimer angenagt. Ina, die Tochter von Nadja und Werner, jetzt eine 23-jährige Studentin, pflegt ihren erkrankten Vater, ist aber überfordert mit dieser Aufgabe.

Auf der Suche nach Information im Internet stösst sie auf das Online-Programm «Daytrack», dessen Mitglieder sämtliche Dokumente, Fotos oder Papiere, aber auch ihre täglichen Aktivitäten, vom Schlafrhythmus über eingenommene Kalorien bis hin zur Frequenz, mit der sie Sex haben, einspeichern. Das Ziel ist es, ihren Tagesablauf zu optimieren, ihr Leben in völliger Transparenz mit dem Rest der «Community», aber auch post-mortem mit ihren Nachfahren zu teilen. Ina sieht darin eine Möglichkeit, gegen das «Whiteout», das ihren Vater – und vielleicht später sie selbst? – bedroht, anzukämpfen. Deshalb nimmt sie ihre Gespräche mit ihm auf und kommentiert in Online-Tagebucheinträgen seinen fortschreitenden Verfall.

Auf Daytrack lernt sie auch den 35-jährigen Jens kennen. Die Beziehung, die sich zwischen den beiden anbahnt, ist aber zum Scheitern verurteilt, Jens ist kaum mehr fähig, ausserhalb des Internets zu leben, er kommentiert und archiviert jedes kleinste seiner Erlebnisse direkt, anstatt es tatsächlich zu leben.

Die Spielorte können einerseits geographisch zugeordnet werden – Werners Wohnung zum Beispiel – aber es gibt auch Orte wie «Das Internet» und «Die Erinnerung ». Orte, die schlussendlich ebenso real sind wie die physischen Orte. Wenn nicht noch mehr, und das nicht nur in Werners Kopf.

Gegenwart und Vergangenheit, reale Orte und Erinnerungsfetzen, Lebende und Tote, reelle und virtuelle Menschen fliessen ineinander. Zum Beispiel, wenn Werner in voller Antarktisausrüstung in seiner Wohnung herumirrt und sich aufmacht, im Weiss eines Schneesturms, bei -48°C, Messungen zu machen. Und Nadja – oder ihr Geist oder eine Fata Morgana (die nur Werner sieht und nicht Ina, als ob sich zwei Parallelwelten gleichzeitig auf der Bühne befänden) – für immer jung (zwischen 30 und 40) in Werners Erinnerung, mit ihm spricht. Das erscheint dann auch uns als dem Publikum fast realer als der im Internet gefangene Jens (obwohl er von einem Schauspieler auf der Bühne verkörpert wird) oder der Chor der Stimmen der Daytrack-Community…

Ein Blick in den Text…

« Schau mal, das ist mein Smartphone, damit nehme ich das hier auf, unser Gespräch, damit ich später nicht alles aus dem Gedächtnis – macht dir doch nichts aus?
Ist wichtig, damit ich nicht mal das gleiche Problem habe, wie –
(Pause) »

Ein Stück, das mit viel Vorstellungskraft und – in wahrsten Sinne des Wortes – Weitsicht (Welt-)Geschichte und (Familien- und Generationen-)Geschichten miteinander verbindet – und manchmal ungewohnte Schwerpunkte setzt: Den Mauerfall erleben Nadja und Werner von weitem, von einer Forschungsstation in der Antarktis aus, das allmähliche Verschwinden Werners im ewigen Eis des Vergessens kriegt seine Tochter hautnah mit.

Die ersten Szenen lassen kurz befürchten, dass wir uns im x-ten Stück über Big Brother und andere Gefahren des Internets befinden, aber dann wird dieses Thema sehr intelligent eingebunden, insbesondere mit der Parallele des Funks in der Vergangenheit und dem Internet heute. Nadja und Werner kommunizieren zunächst per Funk und lernen sich erst in Deutschland persönlich kennen – genauso wie sich 25 Jahre später Ina und Jens über das Internet kennenlernen… Und in beiden Generationen ist die Begegnung von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

Das Stück ist sehr gut konstruiert, die Zeitsprünge, Flashbacks und Parallelhandlungen zwischen Vorstellung und Wirklichkeit fliessen sehr natürlich ineinander über. Ausserdem hat Kettering ihren Text auch sprachlich und rhythmisch interessant durchkomponiert, mit thematischen, sonoren und verbalen Leitmotiven, die wie musikalische Elemente den Text durchziehen.

Das Hauptthema, das dem Stück zugrunde liegt, ist die Erinnerung und wie die verschiedenen Figuren mit ihr umgehen. Kettering untersucht die gleichen Motive (Vergessen; Whiteout; reale und virtuelle Welt; Kommunikation; Utopie) unter den jeweils anderen Voraussetzungen 1989 und 2003. Die beiden Generationen gehen unterschiedlich mit ihren Erinnerungen um, auch sonst hat sich vieles verändert, das Internet ist allgegenwärtig geworden – aber mit jemand eine Beziehung einzugehen und die Partnerin oder den Partner als das, was sie oder er ist hinzunehmen, ist nach wie vor schwer.

Kettering sagt selbst über ihren Text, dass sie ein Stück über die Unsterblichkeit als Utopie schreiben wollte.
Sollen wir es hinnehmen, dass Erinnerungen nach und nach verschwinden? Ist es möglich, ein Menschenleben aufzuzeichnen und sämtliche Erinnerungen lückenlos abzuspeichern? Ist völlige Transparenz erreichbar – und vor allem wünschenswert? Ein berührender Theatertext, der an die Bühne interessante Aufgaben stellt.

Katharina Stalder

EURODRAM wird „Antarktis“ ins Französische übersetzen lassen. Die Übersetzerin ist Katharina Stalder, die Autorin des obenstehenden Artikels.