Interview mit Greg Liakopoulos zu seiner Übersetzung des Stückes Der freie Fall von Raoul Biltgen ins Griechische.
Die Übersetzung wurde ermöglicht durch Unterstützung des Bundeskanzleramts Österreich.
Der Regisseur und Übersetzer Greg Liakopoulos | Foto: Daniel Schlegel
Wolfgang Barth: Lieber Greg, du hast das Stück Der freie Fall von Raoul Biltgen aus dem Deutschen ins Griechische übersetzt. Kannst du uns etwas über deinen Werdegang, dein Leben und deine Arbeit erzählen, damit plausibel wird, wie es dazu kam?
Greg Liakopoulos: Ich habe in Athen Schauspiel studiert, und nach zwei Jahren der Arbeit in der dortigen freien Szene bin ich nach Hamburg gezogen, um an der Theaterakademie Hamburg Regie zu studieren. Mittlerweile wohne ich in Berlin und arbeite sowohl in Deutschland als auch in Griechenland als Regisseur, Dramaturg und Übersetzer.
Meine Tätigkeit als Übersetzer ist aus der Theaterpraxis entstanden: Ich war unzufrieden mit einigen Übersetzungen aus dem Deutschen, die mir begegnet waren, und wusste, dass es tolle Stücke gab, die noch nicht ins Griechische übersetzt wurden.
Kamen dir Inhalt und Form des Stückes entgegen oder spielte das bei der Übersetzung keine Rolle?
Ich empfinde Übersetzen als eine dem Original gegenüber sehr verantwortungsvolle Arbeit. Das heißt für mich, dass ich mich in jeden Text verliebe, den ich übersetze. Der freie Fall war keineswegs eine Ausnahme.
Gab es sprachlich oder inhaltlich besondere Herausforderungen oder Probleme? Liegt hierin ein Unterschied zu früheren Übersetzungen?
Dieses Stück bedient sich einer Alltagssprache, die aber rhythmisiert ist und stark mit Wiederholungen arbeitet. Den Rhythmus eines Textes in eine andere Sprache zu übertragen, ist immer eine Herausforderung. Dazu kommen auch die Wortspiele, die Biltgen eingebaut hat, die immer eine gewisse Kreativität erfordern. Vor allem war es aber auch das erste Mal, dass ich ein Stück übersetzt habe, das hauptsächlich an ein jugendliches Publikum gerichtet ist.
Die Thematik des Stückes ist für Deutschland hochaktuell. Adressaten sind besonders Jugendliche. Sicher führten auch diese Gesichtspunkte zur Auswahl durch Eurodram. Wie sieht es damit nach deiner Einschätzung in Griechenland aus? Meinst du, dass das Stück dort auf Interesse stößt?
Leider sind rassistische und religiöse Vorurteile auch in Griechenland nichts Unbekanntes. Auch unter Jugendlichen. Es ist gerade weltweit eine Blütezeit für nationalistische Erzählhaltungen und Verschwörungstheorien, da ist Griechenland keine Ausnahme. Es wäre nur wünschenswert, dass die Kunst ein Gegengewicht dazu darstellen könnte. Hoffentlich kann Der freie Fall etwas in diese Richtung leisten.
Kannst du uns knapp etwas zur aktuellen griechischen Theatersituation sagen? Passt das Stück in die griechische Theaterlandschaft? Gibt es eine Aussicht auf Aufführung und Verbreitung?
Sehr kurz zusammengefasst: Eine riesige, bunte, unüberschaubare Theaterlandschaft mit sehr knappen Geldmitteln und geringer staatlichen Unterstützung.
Es gibt bereits Interesse von einer Regisseurin am Stück, mal sehen was daraus wird.
Die Übersetzung wurde vom österreichischen Bundeskanzleramt gefördert. Hat das gut geklappt?
Auf jeden Fall. Es lief alles bis jetzt ziemlich unkompliziert.
War die Übersetzung dein erster Kontakt zu Eurodram? Kannst du uns aufgrund deiner Erfahrung Empfehlungen für unsere weitere Arbeit geben?
Ja, das war meine erste Kooperation mit Eurodram. Ich finde, es handelt sich um eine höchst unterstützenswürdige Initiative, die eine Lücke zu füllen versucht, und zwar die europaweit mangelnde Vernetzung von Theaterautor*innen und –übersetzer*innen. Es freut mich auch sehr zu sehen, dass das deutschsprachige Komitee von Eurodram eines der aktivsten ist und dass engagierte Menschen dafür arbeiten.
Was ich mir wünschen würde, wäre: noch mehr Austausch! Vielleicht ein Treffen der Übersetzer*innen und der Autor*innen?
Übersetzt aus dem Niederländischen von Uwe Dethier.
Der Autor Stijn Devillé.
Das Stück HITLER IST TOT von Devillé beschreibt die Situation beim Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/1946 in Nürnberg. Diese Situation ist für den Autor und historisch vor allem durch das titelgebende Faktum bezeichnet, dass die auratische Ära des „Führers“ nach dessen Selbsttötung vorüber ist. Auch seine beiden wichtigsten Stellvertreter Goebbels und Himmler haben sich „van het leven beroofd“, also ebenfalls das Leben genommen, wie es auf der Internetseite des Autors heißt. Die große Personage des Stücks besteht aus der in Nürnberg inhaftierten verbliebenen Führungsriege der Partei und den Anklägern, Richtern sowie einer Journalistin.
Das Stück zeichnet sich zuerst durch seine gewichtige Thematik aus, die sich komplett auf die Figuren konzentriert. Die Dialoge sind knapp, dynamisch, die Atmosphäre ist dicht. Erwähnt werden sollte noch die Notation. Schon in seinem ersten Stück HABGIER (HEBZUCHT, übersetzt aus dem Flämischen von Uwe Dethier), das eine Familie im Investitionsgeschäft während der Finanzkrise beschreibt, notiert Devillé die Figurennamen in Tabellenform am Seitenanfang und deren Dialoge kaskadenhaft darunter.
Das Stück ist dokumentarisch mindestens insofern, als dass die Figuren teilweise historisch sind. Die Figuren der Ankläger und Presse sind fiktiv. Einerseits ist das schriftliche, dokumentarische Format aktuell wenig en vogue, was diese Arbeit als Ausnahme interessant macht, andererseits ist bisher offenbar und erstaunlicherweise kein Theaterstück über diese spezielle Situation nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen.
Abgesehen von den ohnehin interessanten historischen Personen und ihrem Gebaren im Zusammenhang mit den Prozessen, das schon damals alle Anzeichen einer Theaterinszenierung an den Tag legte, zeigen auch und vor allem die Szenen mit den scheinbar rasch zusammenrekrutierten Ankläger und Richter, wie unsicher ihre Position gegenüber Schwergewichten wie Göring oder Streicher waren. Zwar basierte die Einrichtung des Internationalen Militärgerichtshofes auf Beschlüssen der Vereinten Nationen und stellte eine Fortsetzung und Weiterentwicklung des Völkerrechts dar. Zum ersten Mal aber wurden die Vertreter eines zum Zeitpunkt ihrer Taten souveränen Staates für ihr Handeln zur Rechenschaft gezogen, was dann in den Argumentationen auch Probleme auslöste und die Position der Angeklagten stärkte.
Szene aus der Uraufführung.
Lieber Stijn Devillé,
welches war der Anlass für dieses historische Stück?
„In vielen meiner Stücke stellt sich Fragen der Moral: was ist richtig, was ist falsch? 2002 habe ich ein Stück geschrieben, das sich mit dem Leben meines Onkels beschäftigt. Im zweiten Weltkrieg war er ein Held des Widerstands, war aber später, in den 50er Jahren, an einem antikommunistischen Sonderkommando beteiligt, das den belgischen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei umgebracht hat.
So wurde aus dem Kriegsheld ein ordinärer Killer. Als das in den späten Neunzigern herauskam, war ich schockiert. (Erst 2007, wenige Monate vor seinem Tod, hat mein Onkel die Tötung des Parteiführers zugegeben.) Mir kam es so vor, als gäbe es so etwas wie richtig und falsch gar nicht: es liegen immer dicke Grauzonen dazwischen.
Die Nürnberger Prozesse erschienen wie die Mutter aller Fälle, in denen diese ewige Frage zwischen Richtig und Falsch angegangen wurde. Allen war klar, dass der NS-Staat falsch war, aber hieß das automatisch, dass die Alliierten die ganze Zeit Recht hatten? Und was könnten die Konsequenzen für kommende Generationen sein? Als Kind hatte ich immer das Gefühl, „auf der richtigen Seite“ geboren zu sein. Aber mit welchem Recht konnte ich das behaupten? Im Gegenteil wurde ich durch mein Geburtsjahr 1974 zu einem Teil der Menschheit, der für einen Holocaust verantwortlich war: die Menschheit hatte keine Möglichkeit, diesen Fleck aus ihrer Geschichte zu tilgen. Als wären wir alle von dieser „Erbsünde” berührt. Deswegen sagt Edith Berger in der letzten Szene des Stücks: „Wir haben den Krieg nicht gewonnen. Wir haben ihn verloren.” Diese Sichtweise machte diesen historischen Fall für mich sehr relevant, naheliegend und modern.“
Welche Quellen haben Sie benutzt?
„Im Vorfeld hatte ich ungefähr fünf Jahre lang recherchiert (während ich andere Projekte geschrieben und inszeniert habe) und ein weiteres Jahr Vollzeit. Die Hauptquelle waren die Originalprotokolle der Verhandlungen in Nürnberg: sie umfassen 47 Bücher. Diese Abschriften wurden mit dem Avalon Project der Yale University im Internet öffentlich zugänglich gemacht. Andere wichtige Quellen waren: INTERROGATIONS: THE NAZI ELITE IN ALLIED HANDS, 1945 (2001) (Verhöre: Die NS-Elite in den Händen der Alliierten 1945, Ullstein Taschenbuch 2005) von Richard Overy, The Nuremberg interviews: conversations with the defendants and witnesses von Leon Goldensohn & Robert Gellately und das Nuremberg Diary (Nürnberger Tagebuch, dt. von Margaret Carroux, Karin Krauskopf und Lis Leonard, FISCHER Taschenbuch 1977) von Gustave M. Gilbert. Sowohl Goldensohn als auch Gilbert schildern die Prozesse hinter den Kulissen, aber Gilbert ist sehr voreingenommen, während Goldensohn (in der Ausgabe des Historikers Prof. Dr. Gellately) präziser ist. Die Szenen mit Albert Speer sind angelehnt an die Arbeiten von Joachim Fest. Außerdem gab es Arbeiten von Steffen Radlmaier, Bradley F. Smith, Norbert Ehrenfreund, Hannah Arendt, Viktor Klemperer, Ian Kershaw, Geert Mak, Jörg Friedrich, Martha Gellhorn, Gitta Sereny…“
Während die deutschen Angeklagten historisch sind, scheinen die Amerikaner und Engländer im Stück fiktiv zu sein. Wieso?
„Alle vier Figuren (Robert Jackson, Dodd West, Rebecca Goldensohn und Edith Berger) sind entfernt angelehnt an historische Personen. Aber da diese der Öffentlichkeit wenig bekannt waren (Thomas Dodd? Airey Neave?), konnte ich sie anderes gestalten:
Ich wollte unterscheiden zwischen den Angeklagten einerseits, die nur über ihre Vergangenheit nachdenken und streiten konnten (vor ihnen lag nur der Tod), und andererseits den Anklägern, die sich auch mit der Zukunft zu befassen hatten. Um also das Stück für heute relevant zu machen, kam ich darauf, dass es spannend wäre, diese Figuren sehr jung zu machen. Ungefähr in meinem Alter. Historisch war das nicht ganz zutreffend: Robert Jackson z. B. war in Nürnberg über 50, in unserer Fassung wurde er aber von einem Schauspieler Ende Zwanzig gespielt. Wie gehen junge Leute mit diesem Problem um, ein ganzes Leben, die ganze Zukunft noch vor sich zu haben?
Gleichzeitig gewann ich damit mehr künstlerische Freiheit: ich konnte Gewohnheiten und Neigungen beschreiben, die zu der Zeit in Nürnberg herrschten (z. B. freien Sex; oder eine eher verschwenderische und freizügige Atmosphäre hinsichtlich Trinken und Alkohol), ohne genau darauf achten zu müssen, ob dieser oder jener historische Ankläger an solchen freizügigen Abenden in der Hotellobby teilgenommen hätte…
Die Figur von Edith Berger basiert auf mehreren historischen Frauen, die beim Prozess zugegen waren, z. B. Martha Gellhorn, Rebecca West, Elsa Triolet und Hannah Arendt. Rebecca West hatte zum Beispiel im Prozessverlauf eine Affäre mit dem amerikanischen Richter Francis Biddle, daher auch die Liaison zwischen Dodd West und Edith Berger im Stück.“
Szene aus der Uraufführung.
Übrigens ist zum Thema der Simultanverdolmetschung bei diesem Ereignis ein interessantes Buch erschienen: „Simultandolmetschen in Erstbewährung: der Nürnberger Prozess 1945“, Schippel/Kalverkämper, Frank & Timme, ISBN 978-3865961617.
DER ÜBERSETZER: Uwe Dethier ist Übersetzer aus dem Englischen, Niederländischen, Flämischen und auch aus dem Berndeutschen. Er hat zahlreiche Stücke von Autoren wie Roel Adam, Ignace Cornelissen, Guy Krneta und Charles Way übersetzt, viele davon für junges Publikum. Die von ihm übersetzten Stücke von Stijn Devillé werden bisher nicht von deutschsprachigen Verlagen vertreten.
DER AUTOR: Der flämische Autor Stijn Devillé verzeichnet auf seiner Website www.stijndeville.be 10 Theaterstücke, von denen die hier erwähnten zwei ins Deutsche übersetzt sind. Er ist außerdem Theatermacher. Nach Braakland/ZheBilding in Leuven, Belgien, ist er seit kurzem Künstlerischer Leiter eines neuen Hauses: Het Nieuwstedelijk.
Szene aus der Uraufführung.
Würden Sie uns kurz etwas über diese neue Spielstätte sagen, Herr Stijn?
„Het nieuwstedelijk ist das neue Stadttheater von Leuven, Hasselt & Genk. Es ist hervorgegangen aus einer Zusammenlegung von Braakland (meiner Truppe, die 2010 zum Stadttheater von Leuven gekürt wurde) und de Queeste (dem kleinen Stadttheater von Hasselt). Wir haben uns zum Ziel gesetzt, neue Stücke zu produzieren, die Fragen zu Leben und Gesellschaft im einundzwanzigsten Jahrhundert stellen: was passiert in unseren Städten, in dieser Welt und welche Auswirkungen hat das auf unseren Alltag? Aktuell arbeite ich an einer Trilogie zur Bankenkrise und der daraus folgenden Eurokrise, Hebzucht, Angst & Hoop.“
Hebzucht (HABGIER, ebenfalls von Uwe Dethier übersetzt) hatte 2012 Premiere, ANGST 2014, und HOOP (HOFFNUNG) kommt am 3. Dezember 2015 heraus. Die ganze Trilogie wird im Frühjahr 2016 am Stück gezeigt.