PORTRÄT: Henriette Dushe

Schaut man sich die Konstellationen in Henriette Dushes Stücken an, sind es immer wieder die Frauenfiguren, die faszinieren und im Vordergrund stehen. Das Drama „In einem dichten Birkenwald, Nebel“ beginnt zunächst mit drei Männern, die aus ihrem Leben fallen, weil sie aus verschiedenen Gründen zusammenbrechen. Da tauchen drei Frauen unterschiedlichen Alters aus dem Nebel auf und erfinden sich eine gemeinsame Geschichte oder stehen als Ärztinnen dem Chor der Burnout-Patienten bei. In „Lupus in Fabula“ trifft man drei Schwestern am Sterbebett des Vaters an, die durch dessen Verschwinden  in unterschiedlicher Weise auf sich selbst zurück geworfen sind.

Auch in „Von der langen Reise auf einer heute überhaupt nicht mehr  weiten Strecke“ stehen eine Mutter und ihre vier Töchter im Mittelpunkt des Geschehens, der Vater der Familie hat sich in sich selbst zurück gezogen und ist verstummt.

„Die Texte wandern durch die Köpfe in die Münder der anderen und wieder zurück durch den Mund eines Gegenübers in den Kopf einer anderen, nur die Mutter: ist und bleibt immer eine Mutter…“ – so beschreibt Henriette Dushe ihren Bühnentext für fünf Frauen, in dem nur die Mutter personifiziert wird, die vier Töchter teilen sich die Bezeichnungen „Eine, Andere, Einige“.

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Henriette Dushe (Copyright: C. Pitzke)

Das Stück, ausgezeichnet  2014 mit dem Autorenpreis „Stück auf!“ der Stadt Essen und am Theater Essen uraufgeführt in der Inszenierung von Ivna Žic, beschreibt die melancholische Geschichte einer Familie aus der ehemaligen DDR und lebt von seiner Musikalität.

Die  Mutter und ihre vier Töchter sprechen miteinander – aber der Text entwickelt eine Art Eigendynamik im Durcheinander-, Übereinander und Aneinander-vorbei-Reden. Erzählt wird die Erinnerung an die Ausreise der Familie aus der DDR, eine Reise in ein Land, das für den (nicht zu Wort kommenden) Vater  zu einem nie eingelösten Versprechen wurde. Die Figuren haben keine Namen, als hätten sie mit der Heimat auch die Identität verloren.

Sandra Schüddekopf, die die Szenische Lesung am Theater Leipzig beim 4+1 Festival einrichtete, schätzt den Text, weil er es schafft  „über die persönlichen Erinnerungen der Familie an ihre Ausreise hinaus etwas über die gesamtdeutsche Geschichte zu erzählen. Obwohl die Erinnerungen durch die Figuren wandern, sind die Figuren in ihren Beziehungen zueinander sehr klar. Der Text umkreist Gewissheit und Ungewissheit im Umgang mit Erinnerungen und spielt, auch in seiner Form, mit der Struktur von Erinnerungen.“

Die Mutter und ihre vier Töchter erinnern sich: an graue Anzügen mit wechselnden Gesichtern, an endlose Listen von Haushaltsgegenständen, das “Scheiß-Gärtchen” des Großvaters, die Waschbecken-Nische für Störenfriede im Klassenzimmer, die Brechanfälle der einen Tochter, den taubengrauen Bahnhof und an die traumatische Zugfahrt ohne Rückfahrschein aus der DDR, an den Vater, der das restliche Geld aus dem Zugfenster wirft, an die alle Sachen durchwühlenden Grenzbeamten und schließlich die Ankunft in einem niedersächsischen Provinzstädtchen.

Das Erinnerungsmaterial wird in Aufzählungen und rhythmischen Wiederholungen immer wieder neu sortiert und wirkt durch die Musikalität der Sprache wie ein sehr genau durchkomponierter gemeinsamer Gesang von der Mutter und ihren Töchtern.

Das Leipziger Festival  4+1, auf dem EURODRAM das Stück präsentierte, war ein Festival zur Nachwuchsdramatik im deutschsprachigen Raum, zu dem sechs Schreibschulen eingeladen waren: UniT Graz , die Universität für Angewandte Kunst in Wien sowie die Schreibschulen aus Hildesheim, Biel, Berlin und Leipzig.

Henriette Dushe hat selbst am UniT in Graz studiert und mit der Regisseurin der Uraufführung Ivna Žic an „Von der langen Reise…“ ursprünglich gemeinsam gearbeitet. Beide haben sich als Teilnehmerinnen des Forum Text kennengelernt – eine zweijährige künstlerische Begleitung mit Mentoring durch uniT in Graz.

Henriette Dushe stellt in einem Interview mit Magdalena Kotzurek dar, dass sich die UniT Graz nicht als Schule versteht, „die  von vornherein zu wissen meint, was sie vermitteln will. Hier stehen die einzelnen Autoren mit ihren Schwerpunkten in Thema und Form und Sprache im Vordergrund. Darüber hinaus ist die gesamte Ausbildung schon sehr früh vernetzt mit Schauspieler_innen und Regisseur_innen, so dass der interdisziplinäre Austausch über Theatralik die Textentstehung schon früh begleitet, das öffnet den Autor_innen natürlich alle Sinne, für die Bühne zu schreiben.“

Inka Neubert

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Beim 4 + 1 Festival am Schauspiel Leipzig.

HENRIETTE DUSHE stammt aus Halle/Saale. Von 2001 bis 2006 studierte sie in Potsdam KulturArbeit (Diplom im Fachbereich Angewandte Ästhetik). Von 2011 bis 2013 folgte ein Studium des Szenischen Schreibens an der uniT Graz. Von 2002 bis 2011 war sie Dramaturgin und Autorin beim freien Autoren- und Schauspielkollektiv unitedOFFproductions (Braunschweig/Berlin). Henriette Dushe lebt in Berlin.

Stipendien und Preise (Auswahl): 2008 Werkstattstipendium für Literatur der Jürgen-Ponto-Stiftung — 2009 Verleihung des Retzhofer Dramapreis für „MENSCHEN BEI DER ARBEIT“ (UA 2010 am Schauspiel Chemnitz) — 2010 Werkstattstipendium für „SPRACHLOS DIE KATASTROPHEN IM BEREICH DER LIEBE“ am Staatstheater Mainz — 2013 J.M. R. Lenz-Preis für Dramatik der Stadt Jena für „IN EINEM DICHTEN BIRKENWALD, NEBEL“ sowie Autorenpreis des Heidelberger Stückemarktes für „LUPUS IN FABULA“ — 2014 Autorenpreis „Stück auf!“ der Stadt Essen für „VON DER LANGEN REISE AUF EINER HEUTE ÜBERHAUPT NICHT MEHR WEITEN STRECKE“ — 2014 Christian-Dietrich-Grabbe-Preis für „IN EINEM DICHTEN BIRKENWALD, NEBEL“

Die Stücke von Henriette Dushe werden vertreten vom Henschel Schauspiel Theaterverlag.

 

EURODRAM wird „Von einer langen Reise auf einer heute überhaupt nicht mehr weiten Strecke“ ins Polnische übersetzen lassen. Die Übersetzerin ist Dr. Iwona Uberman.