Marina Skalova: DER STURZ DER KOMETEN UND DER KOSMONAUTEN

aus dem Französischen von Marina Skalova und Frank Weigand

            Ein Stück über Liebe, dieses « oberflächlichste und ungenaueste Wort », wie Bernard-Marie Koltès als Motto des Stückes sagt.

Drei Tage, vier Nächte – und ein paar Milliarden Lichtjahre – auf den Strassen von Berlin nach Moskau, wo Vater und Tochter versuchen, einander zu verstehen. Vielleicht. Ein bisschen.

Der Vater, Doktorand in der UdSSR, hat in Frankreich, kurz vor dem Fall der Berliner Mauer, keine interessante Arbeit gefunden und musste sich mit temporären Aufenthaltsgenehmigungen herumschlagen. Das vermeintliche Paradies hat sein Versprechen nicht gehalten. Heute ist er Geschäftsmann, Import-Export – das heisst, dass er in Westeuropa für russische Kunden Autos kauft und diese nach Russland fährt. Die Tochter, zweite Einwanderergeneration, als Kind nach Frankreich gekommen, hat nur noch lückenhafte Erinnerungen an ihre ersten Lebensjahre in der Sowjetunion. Sie arbeitet an ihrer Dissertation, ist voll integriert, hat aber nur wenig Verständnis für die Probleme und die Sichtweise des Vaters – der ihr wiederum ihr allzu französisches Wesen vorwirft. Vor der Wende war alles einfach: Es gab die Sowjetpropaganda und diejenige aus dem Westen. Und da man erstere als Lüge ansah, glaubte man zwangsläufig, dass letztere die Wahrheit sei. Die Tochter (er)lebt jedoch heute einerseits eine Ernüchterung, andererseits eine Befreiung: Der Westen ist auch kein Paradies, aber sie profitiert von den Möglichkeiten und der Freiheit der neuen Epoche. Eine Freiheit, die den Vater, der nie gelernt hat, aus Dutzenden von Wurstsorten oder Uniabschlüssen auszuwählen, überfordert.

Stückweise, durch freie Assoziation, erzählt der Vater seine Geschichte, die Geschichte der Familie, vor und nach dem Umzug in den Westen. In parallelen Monologen von Vater und Tochter erfahren wir auch einiges über das, was sie einander nicht sagen, was sie aber beschäftigt: Er möchte in Moskau nicht nur Autos verkaufen, sondern auch seine Einsamkeit mit einer jungen Mascha-Irina-Julia-Olga-Tatjana-…, die er über ein Dating-Portal kontaktiert, vergessen. Sie versucht, mit dieser Reise eine fehlgeschlagene Liebesgeschichte zu vergessen. Der Dialog ist nicht einfach, aber auch wenn sie sich oft streiten, kommen sie sich etwas näher. Ein letzter, diesmal reeller, Crash auf der Landstraße Minsk-Mogilev, um Punkt 12 Uhr « sprengt die Familienkonstellationen »: Ende der Familie, Vater und Tochter sind atomisiert. In der nächsten Szene treiben « Er » und « Sie » im Weltraum – wie auch Phrasen und Sätze, die sie durchs Stück hindurch gesagt haben: Remix Vater, Tochter und ihre Worte. Fazit: « Wir werden allein geboren wir sterben allein die restliche Zeit basteln wir Pflaster ».

Das Stück ist in einer rhythmischen und musikalischen Sprache geschrieben, und, wie bei einer Partitur, zeigt die Typographie Veränderungen in Rhythmus und Skandierung an. So sind etwa die beiden Szenen « Kata-Strophen I&II » und « Kata-Strophen III » in Textblöcken geschrieben: Vater und Tochter reden in einer Art « Stream of consciousness » aneinander vorbei, in diesen Texten ist der Klang der Worte wichtiger als ihre Aussage, wo die Bilder und Metaphern (Parallelen zwischen Drogen und Liebe, Anziehung und Abstossung von Planeten und Menschen, Endorphine und Gefühle, …) ineinander verwoben sind. Die Übersetzerin-Autorin hat, mit ihrem Mitübersetzer Frank Weigand, einen rhythmisch ebenso dichten Text auf Deutsch erschaffen. Man hat das Gefühl, dass Skalova und Weigand Passagen des französischen Textes in Puzzleteile zerlegt haben und damit auf Deutsch, durch Ideenassoziationen, ein neues Textbild kreiert haben, das dem Original ähnelt und ähnliche Klangbilder hervorruft. Ein Beispiel:

« craving crave creusent trachées l’estomac tranché traversées d’acide façon détergent ménager déteint donc en dedans détériore donc dedans craving crave le temps n’est pas un critère seule compte l’intensité le temps te cratère le temps te crevasse tu te cramponnes craving crave ton crâne crépite l’estomac scarifié craving crève les caresses te criblent sa langue creuse encore creuse lacère sa langue plus qu’un souvenir sa langue lacère te crible coups de cravaches creuse encore »

« craving crave Krätze im Magen Ritzen in den Röhren von Säure verätzt craving crave die Zeit kein Kriterium einzig zählt die Intensität die Zeit gräbt Krater in dich seziert zerreißt zerfetzt du klammerst dich fest craving crave der Magen voller Zacken der Kopf zerhackt craving crave krepier doch zerfall doch seine Zunge zerteilt dich zärtlich seine Zunge zerfurcht zerfranst gräbt sich in dich hinein grabe weiter grabe »

Die Musik der Sprachen ist auch da: Neben einigen Einsprengseln auf Englisch und Französisch ist es vor allem Russisch, das den Text phrasiert. Die Leserin, der Zuschauer haben selten eine Übersetzung oder Erklärung des Ausdrucks – es geht mehr um die Musik als um den genauen Sinn. Je näher sie an Moskau sind, je tiefer sie sich in die Familienpsyche eingraben, desto mehr Russisch schleicht sich in den Text – als ob das familiäre Unterbewusste allmählich auftaucht. Musik ist auch als solche omnipräsent: Vielen Szenen ist sozusagen ein « Titelsong » vorangestellt. Die Autorin lässt die Regisseur*innen entscheiden, ob sie die Musik ins Stück einbringen wollen oder nicht – aber dieses bildet, für Skalova, « das Unterbewusstsein des Textes ». Was die Liedtexte – die Teil des Textes sind – betrifft, empfiehlt die Autorin, « sie zu singen, zu rappen oder zu brüllen ».

« Ein Typ gibt einem Juden einen Globus und sagt zu ihm: Stell dir vor, du kannst dir aussuchen, wo du leben willst. Der Jude sieht den Globus ernst an. Er denkt nach. Er dreht ihn hin und her. Nachdem der Jude den Globus genau angeschaut hat, blickt er auf und fragt den Typen: Hätten Sie vielleicht noch einen anderen Planeten? »

(Ausschnitt aus DER STURZ DER KOMETEN UND DER KOSMONAUTEN von Marina Skalova)

Marina Skalova | Foto: Sandra Hildebrandt

Katharina Stalder: Wie sehr ist dieses Stück autobiographisch?

Marina Skalova: Der Weg von Deutschland nach Moskau über Weissrussland, wie er im Stück beschrieben wird, ist eine Route, die mein Vater tatsächlich über Jahre hinweg zurückgelegt hat. Fünfundzwanzig Jahre später wollte ich die Reise mit ihm machen. Die ersten Szenen des Stücks habe ich in jenem Moment geschrieben. Aber Elemente, die aus meinem möglichen Erlebten geschöpft sein könnten, sind vermischt mit anderen Elementen, die ich teils erfunden und teils aus Gesprächen mit Drittpersonen entnommen habe. Im Schreibprozess verwandeln sich erlebte Elemente in Sprache und somit in Fiktion. Der Wirklichkeitsbezug scheint mir nicht das Wesentlichste. Wirklich wahr aber ist der Eindruck, dass ich den Zusammenprall zwischen zwei Repräsentationssystemen der Welt stets in meinem eigenen Körper empfunden habe. In der Welt, aus der ich stamme, existiert das Private nicht. Die Idee, etwas für sich selbst zu machen oder individuelle Entscheidungen zu treffen, erscheint undenkbar und egoistisch, während unsere ganze westliche Konzeption gerade darauf beruht. Ich wollte dieses Hin- und Hergerissensein darstellen, und auch die Schwierigkeit, sich im Leben zurechtzufinden, wenn alle Werte, in denen man erzogen wurde, verschwunden sind.

KS: Wie fühlt sich das an, einen eigenen Text zu übersetzen? Wie seid ihr vorgegangen, Frank Weigand und du? Wie habt ihr euch die Arbeit geteilt? Wie die definitive deutsche Fassung erarbeitet?

MS: Wenn ich meine Texte schreibe, gehört das Übersetzen oft für mich zum Schreibprozess dazu. Mein erster Lyrikband, Atemnot (Souffle court), war zweisprachig. Das Buch beschäftigte sich mit der Verwandlung eines Textes in die andere Sprache, mit Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzung. Bei der Übersetzung des Stücks ging es zunächst darum, andere Sprachbilder zu finden, die sowohl auf semantischer als auch auf klanglicher Ebene stimmig waren. Frank Weigand hat eine erste Fassung erarbeitet, ich habe dann ganz viel reingeschrieben und wir haben uns den Text solange hin- und her geschickt, bis er für uns beide funktionierte. Ich bin als Autorin zunächst freier mit dem Text umgegangen, habe manche Szenen komplett umgeschrieben, versucht, Klang und Rhythmus wieder zu finden. In diesem Freiraum haben Frank und ich dann Ping-Pong gespielt. Spannend ist für mich, dass sich beim Übersetzen immer wieder Fragen auftun, die ich auch zurück an den Originaltext stelle. Das ist ein unendlicher Austauschprozess.

KS: Kannst du etwas mehr über die Musik – das Unterbewusstsein des Textes – sagen?

MS: Die Idee, dem Text eine Playlist hinzufügen, gefiel mir gut. Das Konzept des « Unterbewussten » des Textes ist aufgetaucht, als ich mit der Regisseurin Nathalie Cuenet, die die Uraufführung im POCHE/GVE in Genf gemacht hat, über das Theaterstück redete. Sie sagte mir, dass sie nicht alle vorgeschlagenen Musikstücke übernehmen wolle, dass sie lieber ihre eigene Tonspur kreieren würde – aber dass ihr die musikalischen Angaben wertvolle Hinweise über die Atmosphäre der einzelnen Szenen gäben. So ist diese Anmerkung zu verstehen. Die meisten Musikstücke geben der Szene eine Färbung und einen Rhythmus, sie widerspiegeln die seelische Welt der Figuren, in Ost und West geteilt. Der Text ist von einer Abfolge von Rockmusik, russischen und westlichen (amerikanischen und französischen) Schlagern geprägt; man findet hier den Kalten Krieg wieder. Die Russen kennen heute die westlichen Musik mehr oder weniger gut, das Gegenteil ist selten der Fall … Beim Übergang ins kyrillische Alphabet passieren wir auch heute noch einen eisernen Vorhang …

KS: Was genau bedeuten für dich die Kosmonauten und die Kometen des Titels?

MS: Das Stück geht von zwei Bildern aus: der Sturz der Kosmonauten, Sinnbilder der UdSSR, und derjenige der Kometen, die den Blitzschlag aus heiterem Himmel der Verliebten symbolisiert. Diese Bilder sind der Antrieb, der Rest entspinnt sich von da aus. In der UdSSR sind die Kosmonauten ein wichtiges Motiv der Vorstellungswelt, das in der urbanen Geografie, in Kinderbüchern und in der populären Mythologie allgegenwärtig ist … Ich wollte das Thema diese Weltraumutopie aufgreifen und daraus einen möglichen Horizont machen. Im Stück ist die Flucht in den Weltraum das, was den Figuren einen Öffnungsraum, eine Flucht und vielleicht eine Utopie erlaubt – sowohl im Kopf als auch konkret. Wie im jüdischen Witz, der im Stück zitiert wird, können sie ihren Platz in der Welt nur auf einem anderen Planeten finden. Was die interstellare Dimension des Stücks betrifft, würde ich sagen, dass mich die poetische Kraft der wissenschaftlichen Phänomene fasziniert. Ich schreibe vor einem Hintergrund von Bildern, die sich gegenseitig erzeugen, sich verweben und so wachsen. Der Weltraum ist ein weiter und starker Raum, der ganz sichtbar das Mikro- und Makroskopische aufeinanderprallen lässt – und so das, was uns Angst macht oder zu gross für uns ist, logisch erscheinen lässt. Die Weltraummetaphern können auf diese Weise sowohl die Anziehung als auch die Aufsplitterung erklären, so dass ich mit ihnen gleichzeitig über Liebe, Auseinanderbrechen und Individualisierung schreiben kann. Genau wie die Fels-, Metall- und Eisblöcke des Stücks, werden die poetischen Bilder aufgesprengt, verfestigt und wieder zusammengesetzt.

von Katharina Stalder

PORTRÄT: Maxi Obexer

“Illegale Helfer“ von Maxi Obexer 

(Mitarbeit: Lars Studer)

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Maxi Obexer, © gezett

 

Der Grad der Präsenz dieses EINEN Themas im medialen Diskurs der letzten Monate ist bemerkenswert – aber auch außergewöhnlich, wie sehr es in die Sphäre des Privaten eindringt. Ob man mit Freunden beisammen sitzt, in der Mittagspause mit Kollegen, oder zuhause am Küchentisch – DAS kommt garantiert zur Sprache: Die derzeitige Migrationsbewegung!

Auf die eine oder andere Weise hat dieses Thema Eingang gefunden in die Gemüter einer gesamten Gesellschaft! Das ist keineswegs eine selbstverständliche Reaktion, dass Alle etwas interessiert. Zum letzten Mal war das vielleicht bei den Anschlägen in New York 2001 der Fall. Und über andere, nicht minder große Flüchtlingsbewegungen, z.B. im Afrika der 2000er Jahre, wurde sich weitaus weniger Gedanken gemacht. Etwas hat sich plötzlich in eklatantem Maße in der öffentlichen Wahrnehmung verändert. Die Macht des Diskurses, auch die politische Gefahr, die von ihm ausgehen kann, ist uns durch Foucault und Barthes bekannt. Unlängst hat Peter Sloterdijk in einem TV-Gespräch darauf hingewiesen, wie beengt, wie eingefahren und selbstreferentiell die eigene Betätigung im Diskurs auch verlaufen kann. In welcher Weise können wir vom Theater uns also an der Betrachtung des Flüchtlingsthemas beteiligen? Was können wir zu dem Diskurs-Puzzle an Meinungen und Haltungen beitragen, ohne vorgefertigte Muster zu bedienen?

Wie kann sich das Theater zu diesem Über-Thema unserer Tage äußern?

Vorliegender Theatertext „Illegale Helfer“ nähert sich aus einer Blickrichtung. Er folgt, der Titel verrät es, dem Narrativ derjenigen, die helfen wollen. Nicht Jeder mag helfen, das sehen wir. Andere haben Angst. Sie kommen hier nicht zur Sprache. Ein anderes Stück mag andere Meinungen, andere Aspekte in den Vordergrund stellen. Maxi Obexers Text kann man dennoch keine einseitige Betrachtung vorwerfen. Die Autorin hat etwas Überzeugendes geschaffen, in dem sie innerhalb einer vermeintlich bekannten Helfer-Position Neues, Unerwartetes beschreibt. Sie zeigt uns einen Ausschnitt paradoxer, brutaler Realität, den unsereins als Otto-Normal-TV-Seher nicht kennt, weil er im medialen Diskurs weitestgehend unbeachtet (bis verschwiegen?) bleibt.

Diese illegalen Helfer setzen sich für Menschen ein, die ihnen zwar fremd sind, die sie aber ganz nah an ihr eigenes Leben heran lassen, weil sie Hilfe benötigen – und sie tun dies unter Inkaufnahme von Rechtsverstößen. Sie setzen die individuelle, moralische Integrität über die des braven Staatsbürgers.

 Um Skeptikern gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen: Hier springt keiner auf den Emotionszug auf, weil es gerade angesagt ist. Schon gar nicht diese Autorin, für die das Thema „Festung Europa“ nicht erst jetzt hervorpoppt, sondern die sich dafür schon länger kritisch interessiert. Dies Stück ist auch nicht DAS Stück zur Flüchtlingskrise. Der Text ist eine Momentaufnahme und liefert einen Teilmoment – nicht mehr aber auch nicht weniger! Damit vermeidet er den moralischen Zeigefinger und die Gefahr des vermessenen Anspruchs, das Theater habe den relevanten Zugriff zum Über-Thema stets parat.

 Verändernde Zeiten?

Ob von nun an „nichts mehr so sein wird, wie es war“, wie Einige schon gerne apostrophieren, werden wir in einigen Jahren wissen. Auch ohne die große Zeit der Umwälzung im Allgemeinen erkennen zu wollen – im Kleinen, im Persönlichen hat sich bei einigen Menschen die vergangenen Monate über bereits sehr viel verändert. Gesellschaftliche Prozesse sind keine Frage von Theoremen am Reißbrett. Auch wenn die Makroebene der Politik, wie die Soziologen es nennen, durch Maßnahmen darauf Einfluss nehmen kann. Der Prozessverlauf bedingt sich durch das konkrete Verhalten Einzelner. Mögen die meisten von uns in ihrem Alltag keinen persönlichen Berührungspunkt zu einem der Menschen auf der Flucht haben und sich das eigene Meinungs-, Angst- oder Empathie-verhalten eher aus dem Mediendiskurs speisen. Für viele Andere aber ist die „Flüchtlingskrise“ zu einer Frage ihres persönlichen Alltags geworden.

Das Thema hat sich von der Makro-ebene der Politik auf viele neue Mikro-bereiche in unserer Gesellschaft verlagert, ja, manche erst entstehen lassen. Ob Polizisten, Sozialhelfer, Organisationsteams, Logistiker, Anbieter von „Sicherheitslösungen“ oder „Verpflegungspackages“: Für viele Menschen sind neue Einsatzräume, Aufgaben und Verantwortlichkeiten entstanden, die es bis vor einem halb/dreiviertel Jahr de facto noch nicht gab. Manche Menschen entwickeln neue Geschäftsideen. Andere nehmen die eigene Überzeugung als moralischen Gradmesser für Ihr außerberufliches Engagement.

 Unbekannte Realität

Eine dieser sozialen Gruppen, die es vielleicht noch gar nicht solange gibt in unserer Gesellschaft, stellt uns Maxi Obexer mit ihrem brandaktuellen Stück vor – tatsächlich einem der spannendsten Theatertexte zum Thema. Der Text zeugt und bezeugt eine wohl nicht kleine Gruppe von Individuen, die sich für soziales Handeln entschieden haben. Es ist ein Handeln im Stillen. Gegen den Willen des Staates, der anderswo immer noch darum ringt, ob und wie oder wann man am besten handelt. Und das was wir da lesen, findet wirklich statt und genau in diesem Moment, ohne, dass die Öffentlichkeit viel über das darin liegende Dilemma zwischen Recht und Mitgefühl ahnt.

Ein Theatertext wird immer dann spannend, wenn er Widersprüche aufzeigt, neue Zusammenhänge freilegt, wenn er keine naheliegenden erzählerischen Klischees bedient. Erst recht, wenn er wie hier unter Verwendung von Interviewmaterial ein hohes Maß an Authentizität verspricht. So ist eine erstaunliche Entdeckung beim Lesen, die Figur (= reale Person) des Verwaltungsrichters, der sich zwischen offizieller und moralischer Richtschnur entscheiden muss. Ein überraschendes Statement stammt vom „deutschen Studenten Florian“, der am besonders starken Ende dieses Stückes den Grad seines persönlich investierten Risikos relativiert und darin, so könnte man es verstehen, fast eine Banalität des Helfens entdeckt.

Man kann die Inkognito-Protagonisten des Stückes nicht einfach als Gutmenschen abtun. Es wird deutlich, es sind Menschen wie Du und ich. Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten, Alters und biografischen Zusammenhängen. Sie haben unterschiedliche Beweggründe, jede(r) seine eigene Motivation, sich für die Flüchtlinge einzusetzen. Gerne hätte man noch mehr über diese Menschen selbst erfahren oder sie noch stärker in Widerstreit mit kritischen Gegenstimmen gesetzt. Auch, um als Leser/Theaterzuschauer stärker gezwungen zu werden, die eigene Überzeugung in dieser Sache auf den Prüfstand zu stellen. Die Regie hat hier Gelegenheit, ihr Übriges zu tun. Auch deshalb ist es dieser Text wert, auf die Bühne zu kommen!

Der Verdienst dieses Stückes, dieser investigativen Unternehmung von Maxi Obexer ist es, diesen ungewöhnlichen Helfern eine Stimme und damit eine Existenz zu geben – Und dem Theaterzuschauer eine Denkaufgabe für den Heimweg aus dem Theater. Letztlich auch: Eine politische Frage zu stellen nach den gesetzmäßigen Bahnen innerhalb derer wir handeln sollen, in einer Zeit voller jener neuen Ereignisse, mit der sich unsere europäische Gesellschaft so schockhaft plötzlich konfrontiert sieht. Obexer wirft ein Licht auf einen Teil eines unübersichtlichen Diskurses, über den wir bisher noch nichts erfahren haben. Sie hilft, das Bild vielseitiger zu machen – und umso vielfältiger, desto eher ist es an der Realität dran, die wir so sehr begreifen wollen.

Christian Mayer, Graz

BIOGRAPHISCHES:

MAXI OBEXER wurde in Brixen, Südtirol, Italien geboren.

Sie lebt heute in Berlin und Südtirol und ist Autorin von Theaterstücken, Hörspielen, Erzählungen und Essays.

Ausserdem ist sie Mitbegründerin des Neuen Institut für Dramatisches Schreiben (NIDS). www.nids.eu

2011 erschien ihr erster Roman „Wenn gefährliche Hunde lachen“.

Sie hat zahlreiche Förderungen und Preise erhalten, u.a.der Akademie Schloß Solitude, des Collegium Budapest, des LCB Berlin und der Akademie der Künste Berlin.

Sie hat bereits am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, der UdK Berlin und in den USA unterrichtet und war auch als Dramaturgin tätig.

Ihre Stücke sind über www.schaefersphilippen.de zu beziehen.

Homepage der Autorin: www.m-obexer.de

EURODRAM wird „Illegale Helfer“ ins Bulgarische übersetzen lassen. Die Übersetzerin ist Gergana Dimitrova.

Gefördert vom Deutschen Literaturfonds.

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