PORTRÄT: Mehdi Moradpour

UNBESCHRIEBENE ORTE

Die Regisseurin Sandra Schüddekopf im Gespräch mit Mehdi Moradpour über seinen Text EIN KÖRPER FÜR JETZT UND HEUTE

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Der Autor Mehdi Moradpour. – Copyright: Neda Navaee

 

Man könnte sagen, dass in „Ein Körper für Jetzt und Heute“ andere Landschaften vorkommen, als wir sie jetzt so kennen, also rein von den sprachlichen Bildern her. Deine Sprache oder die Bilder, woraus speisen die sich? 

In diesem Fall habe ich lange gebraucht für diese Bilder, für diese Landschaften, weil ich auf der Suche war, vor allem nach einem Rhythmus. Also, den Ablauf des Hauptteiles hatte ich mehr oder weniger im Kopf. Das war hauptsächlich am Strand und voller Traumlandschaften. Aber ich wollte auch die Geschichte oder die Aufstiegsgeschichte von Elias erzählen, der aus dem Dorf in die Stadt kommt und dann weiterzieht, in ein anderes Land und in eine andere Landschaft, mit einem anderen Körper. Und immer weiter will. Bei dieser Suchbewegung sind verschiedene Textsorten und Rhythmen entstanden: Flächentext, Monolog, Textkörper oder Figurenrede.

Tatsächlich beziehe ich mich auf eine Mischung aus, sagen wir, ungefähr fünf Großstädten und Dörfern, die ich kenne, wo ich aufgewachsen bin, wo meine Eltern herkommen, Orte in Brasilien und Kuba, wo ich Ähnlichkeiten gefunden habe. Aber ich habe auch mit Absicht ein bisschen scheinbare Widersprüche eingebaut. Also, das sind die realistischen Bilder, die ich im Kopf hatte. Sprachlich verschiebe ich das nur. Ich versuche für das konkrete Bild manchmal noch mal ein Adjektiv oder eine Eigenschaft zu nehmen, die das Bild etwas verschieben. Vulkanschlote und Schneeberge kann es dann zum Beispiel nebeneinander geben oder ein paar Kilometer voneinander entfernt.

 

Es sind im Endeffekt dann keine konkreten Orte, an denen das für dich spielt, sondern eigentlich eher so, wie diese Figur auf der Suche nach einem Körper ist, einem eigenen jenseits von Zuweisungen, funktionieren für dich die Orte im Prinzip auch?

Einerseits sind es konkrete Orte und andererseits universelle. Es ist ja prinzipiell so, dass ich aufgrund meiner Herkunft oder meiner Herkünfte etwas vorsichtig bin. Selbst in Teheran bin ich manchmal jemand, der nicht „ursprünglich“ von da ist, sondern aus dem Norden. Und selbst im Norden waren Teile der Familie meiner Eltern Menschen, die nicht von dort sind, sondern „ursprünglich“ aus der ehemaligen Sowjetunion.

Bei allen Texten versuche ich natürlich eine konkrete Situation zu schaffen. Zum Beispiel geht es in „Türme des Schweigens“ um kommunistische Eltern mit einem muslimischen Hintergrund, die können aber aus 20 Ländern kommen. Ich versuche trotz einer konkreten Situation, eine Universalität zu schaffen. In diesem Fall ist es zum Beispiel klar, dass die Anfangssituation (Transsexualität erlaubt / Homosexualität nicht erlaubt) im Iran spielen kann. Ich denke, es ist in einigen Ländern in der Welt auch ähnlich. Aber ich versuche keine Namen zu nennen. Es geht nicht um Beliebigkeit, sondern um realistische Tatsachen, die keine extra Zuweisungen brauchen. Deswegen es stimmt schon, dass ich versuche, dadurch den Zuschreibungen zu entkommen, zugleich will ich nicht relativieren. Es ist klar, es geht um eine religiöse Familie aus einem islamischen Hintergrund. Der Sohn hat aber einen jüdischen Namen, was oft vorkommt. Und er will am Ende wie ein Jesus auf einem Kreuz liegen. Also irgendwie habe ich auch versucht, Bilder von drei monotheistischen Religionen zu verwenden. Das geschah aber am Anfang intuitiv.

 

Was für eine Vorstellung von Religion ist für dich damit verknüpft?

Judentum, Christentum und Islam haben viele Gemeinsamkeiten. Regeln für das Zusammenleben, Rituale, Symbolik, Grundpflichten oder die Heilsgeschichte: Da überschneidet sich viel. Sie sind seit Jahrtausenden im ständigen Dialog, oder Trialog, gewesen. Oder eben im Streit, im Krieg. Für mich trägt Elija, der sich selbst ab einem gewissen Zeitpunkt sehr prophetisch wahrnimmt, etwas von allen drei Religionen in sich.

 

Die Sprecherpositionen deiner Figuren sind sehr klar, das ist eine Qualität, die der Text hat. Gleichzeitig gibt es sehr viele Themen, die darin vorkommen. Neben der Transsexualität oder der Verwandlung des Körpers wird das Thema des Funktionierens des Körpers, anhand der Notwendigkeit einer Nierentransplantation für eine der Figuren, verhandelt. Man hat das Gefühl, es werden Themen angerissen, und das eröffnet viel Raum, über diese nachzudenken, gleichzeitig ist es nicht so leicht, all diese Ebenen, wenn ich den Text nur einmal höre, zu erschließen. Gibt es für dich eine Vorstellung, wie der Zuschauer als Theaterzuschauer damit umgehen könnte?

Ich versuche erst mal, eine eigene Realität innerhalb des Textes zu schaffen. Eine eigene Gesetzmäßigkeit innerhalb des Textes. Etwas, das kein reines Festland ist. Wahrscheinlich wuchert es deshalb auch ein wenig und es gibt manchmal viele Ebenen, weil jede Realität komplex ist. Irgendwann ist aber klar, welche Hauptthemen es gibt. Wichtig ist für mich die Zugänglichkeit der Zuschauenden zu einem oder mehreren Bereichen.

Ich gebe aber auch gleichzeitig zu, dass ich manchmal Schwierigkeiten habe, permanent zu denken, da sitzen Leute und schauen hin. Das kann mich oft beflügeln, aber manchmal denke ich auch, bestimmte Teile und Landschaftsbeschreibungen gehören für mich zwar dazu, das könnte aber in den Theaterraum nicht so einfach hineinpassen oder zu den Textteilen, die griffiger sind, dann denke ich, dass ist ja auch nicht immer meine Aufgabe, zum Glück.

 

Es gibt ja auch Abschnitte, die ich auf einer atmosphärischen und nicht rationalen Ebene verstehen kann. Trotzdem beschäftigt mich als Regisseurin dieses Wuchern der Sprache und der Themen für eine mögliche Umsetzung auf der Bühne. Auch für eine Übersetzung ist dieser Text ja eine sehr große Herausforderung.

Ja, eine erfahrene Übersetzerin, mit der ich arbeite, hat gesagt, das ist sicher einer meiner schwierigen Texte, aber sie übersetzt ihn gerade ins Englische. Weil es für sie wie eine Reise ist, und ich liebe es, im Prozess der Übersetzung permanent in Kontakt zu sein. Das mache ich auch, wenn ich selbst übersetze. „Mumien. Ein Heimspiel“ wurde ins Italienische übersetzt, da gibt es auch dichte Stellen am Ende und da kam die Übersetzerin mit italienischen Beispielen, und da ich Spanisch kann und sie auch ein bisschen, hat der Austausch gut funktioniert. Irgendwann bin ich darauf gekommen, sie soll sehr frei arbeiten.

 

Ihr seid also über mehrere Sprachen gegangen?

Genau. Ich bin der Meinung, wir müssen Verluste in Kauf nehmen, für mich ist es viel wichtiger, dass der Übersetzer / die Übersetzerin ein gutes Gefühl hat, auch für das Land, wo der Ausgangstext gelesen oder gesehen werden soll.

Mumien hat ja schon im Titel ein Heimspiel. Und es spielt im und in der Umgebung eines Asylbewerberheims. Und diese Doppelung funktioniert natürlich in anderen Sprachen nicht. Ich spiele da außerdem mit den Begriffen „heimlich“, „unheimlich“, „heimelig“, „heim gehen“, „heim sterben“ und habe da auch manche Paarungen erfunden. Und dann habe ich gesagt, versuch mal, wo du kannst, Paare zu bilden, und wenn es nicht geht, dann bilde sie an anderen Stellen. Nicht nur semantisch, sondern auch klanglich.

 

Mich erinnert die Thematik von „Ein Körper für Jetzt und Heute“ auch an A Manifesto for Cyborgs von Donna Haraway, einen Text aus den 80er Jahren.

Elija geht es ja um die Zukunft des Körpers, um die Allianzen zwischen Organismus und Maschine, also um dieses Cyborg-Werden, sich auflösen und in einem unbeschriebenen Ort neu zusammensetzen, zugleich darum, sich eine neue Welt vorzustellen, wo neue soziale Strukturen und Fragen permanent behandelt werden. Denn das ist ein Stück, in dem es primär um die soziale Neugestaltung der Welt geht, als nur um isolierte Identitätskonzepte oder Verschiebung des Menschseins.

 

Noch mal zur sozialen Frage der Körper – der Gedanke, dass so ein technisierter Körper jenseits der Zuschreibungen etwas positiv Grenzüberschreitendes sein kann, spielt ja heute eigentlich keine Rolle mehr, weil die Idee der Optimierung der Körper in den Vordergrund gerückt ist: Da finde ich interessant, dass du dich jenseits der Optimierung mit der Frage beschäftigst, was kann überhaupt ein Ort jenseits der Zuschreibungen sein und wie können wir dort hingelangen. Also mit der Suche nach dem utopischen Moment dieser Körper.

Ja. Ich hatte eine ältere Version, wo der Fokus nur auf rein utopischer Gestaltung lag. Im Laufe des Schreibens ist mir aber dann klar geworden, es wird doch auch eine Geschichte sein, wo Elija scheitert. Weil er prophetische Visionen hat und jeden Einsatz von technischen und medizinischen Mitteln prinzipiell zuerst bejaht, um sein Ziel zu erreichen, scheitert er. Und das öffnet die Debatte, denke ich. Er behauptet, ich vergesse meine soziale Herkunft nicht. Zwar ist meine Cousine eine Reiche, die eine Ölfirma hat, aber ich denke bei der Überwindung der körperlichen Einschränkungen immer an die soziale Frage und neue Allianzen. Er überlegt sich: Wie können wir anhand der Technik neue Widerstandsbewegungen schaffen? Wir hatten eine Lesung in Berlin, und bei der Besprechung lag der Fokus darauf, dass wir die Technik nicht komplett sozial steuern können. Am Ende bin ich an den Punkt gekommen, dass es vielleicht besser ist, dass er – oder sie  daran scheitert, um diese Fragen in den Raum zu werfen.

Bezüglich der technischen Möglichkeiten war es so: Je mehr ich konkretisiert habe, was Elija für seine Utopie haben und wollen könnte, umso mehr merkte ich, die Technik ist schon vor zehn Jahren weiter gewesen, als ich ihn denken lassen könnte. Ich würde sagen, ich belasse das Thema ambivalent, weil es immer so bleiben wird, und zeige damit ein bisschen, dass eine ruckartige utopische Grenzüberschreitung an den Forderungen der Gesellschaft scheitern kann.

Haraway sieht das Cyborg-Werden ja auch positiv, würde ich sagen. Das kann man so vielleicht aus der heutigen Perspektive nicht mehr nur so sehen. Es wird letzten Endes immer eine Mischung aus beidem sein. Utopische Visionen schlagen neue Schneisen, sie zwingen uns, aus dem Gewohnten herauszutreten, um das Gewöhnliche überhaupt erst sehen zu können. Gefahren sind dabei produktive Kollateralschäden.

 

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Illustration zur Uraufführung am Schauspielhaus Wien. – Copyright: Schauspielhaus Wien

IRYNA HERASIMOVICH übersetzt EIN KÖRPER FÜR JETZT UND HEUTE durch Vermittlung von EURODRAM aktuell ins Belarussische; gefördert mit einem Übersetzungsstipendium des Goethe Instituts.

 

KURZBIOGRAPHIE 

Mehdi Moradpour, geboren in Teheran, ist Autor, Übersetzer und Dolmetscher (Farsi / Dari und Spanisch) und lebt seit 2001 in Deutschland. Er studierte Physik und Industrietechnik in Iran und ab 2004 Hispanistik, Soziologie, Amerikanistik und Arabistik in Leipzig und Havanna. 2014 bis 2016 besuchte der den Lehrgang „Forum Text“ der Uni Graz.

Für MUMIEN. EIN HEIMSPIEL bekam er 2015 den Jurypreis des 3. Autorenwettbewerbs der Theater St. Gallen und Konstanz; für TÜRME DES SCHWEIGENS den exil-DramatikerInnen-Preis 2016 der Wiener Wortstätten. Im selben Jahr wurde sein Musiktheaterstück CHEMO BROTHER an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt. Er erhielt 2017 den Christian-Dietrich-Grabe-Preis für REINES LAND.

 

RECHTE:

Suhrkamp Verlag

Kontakt: theater@suhrkamp.de

 

 

 

 

AKTIVITÄTEN: EURODRAM in Wien

Das Theater Drachengasse in Wien bietet dem deutschsprachigen Eurodram-Komitee zum dritten Mal die Möglichkeit, seine aktuelle Auswahl von für die Übersetzung besonders empfohlenen Theaterstücken zu präsentieren. Aus 85 Einsendungen wurden Mitte März drei im Original auf Deutsch verfasste Theaterstücke ausgewählt, die in jeweils eine andere europäische Sprache übersetzt werden.

Am 16. April um 18 Uhr zeigen wir unsere Auswahl 2018 mit folgenden Stücken und ihren Autoren:

Raoul Biltgen: DER FREIE FALL

Dominik Busch: DAS RECHT DES STÄRKEREN

Mehdi Moradpour: EIN KÖRPER FÜR JETZT UND HEUTE

Im Anschluss an die Präsentationen sprechen wir jeweils mit den Autoren. Moderation der Gespräche: Henning Bochert, Christian Mayer und Ulrike Syha.

Die szenischen Lesungen werden eingerichtet von Sandra Schüddekopf und Milena Michalek nach einem Konzept von Sandra Schüddekopf. Das Programm des Theaters findet sich hier.

R. Biltgen, M. Moradpour, D. Busch | Foto: Bochert

Gefördert durch:

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AKTIVITÄTEN: EURODRAM beim 4+1-Autor*innentreffen in Leipzig

Wie schon 2016 wird das europäische Netzwerk für Dramatik in Übersetzung EURODRAM auch in diesem Jahr wieder beim Treffen junger Autor*innen 4+1 am Schauspiel Leipzig zu Gast sein. Das Festival läuft vom 11.-13. April 2018 und stellt in szenischen Lesungen und Gesprächen junge Autor*innen der Lehrinstitute aus Deutschland, Österreich und der Schweiz vor.

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PORTRÄT: Christiane Kalss (Weitere Empfehlungen)

Zwei Fremde kommen in eine kleine Gemeinde. Wir erfahren nicht, woher sie kommen. Von weit her oder nur aus dem Nachbardorf? Sie werden aufgenommen und unter dem Deckmantel der Nächstenliebe in einer Gemeinde herumgeschoben, die um die Aufrechterhaltung ihres idyllischen Bildes ringt.

Teile dieser Gemeinde sind Heidrun und ihr Sohn. Heidrun macht aus einem alten Bauerhof ein Unternehmen, eine Geburtsklinik mit verschiedenen Angeboten (von der Schaumgeburt bis zur Stallgeburt als Jesuskind sind alle Optionen buchbar), während ihr Sohn immer neue, immer absurder werdende Geschäftsideen hat.

Im Verlauf des Stückes „Die Erfindung der Sklaverei“ dreht sich der Status der Figuren immer wieder. Hinter der Gemeinde steht eine unsichtbare Macht – oder ist es doch die Gemeinde selbst? Ein neoliberales, autoritäres Regime mit einer Blümchenfassade, dem ihre Bewohner ausgeliefert sind.

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Theaterautorin Christiane Kalss

Das Universum von Christiane Kalss scheint eine leichte, humorvolle Welt zu sein. Eine Oberfläche, an der „alles in bester Ordnung“ ist, schön und heimelig, eine Idylle, die permanent um ihre Außenwirkung bemüht ist. Aber diese Leichtigkeit kaschiert nur die Abgründe. Den Abgrund in den Figuren, ihre Unfähigkeit, sich in dieser neoliberalen Welt zurechtzufinden – aber auch den Abgrund des Systems, das die Figuren zunächst unterstützt, um sie im nächsten Moment in den schönsten Tönen zu verraten. Nichts ist sicher. Und dies gilt für die Bewohner der Gemeinde selbst genauso wie für die von außen Kommenden.

Die Regierung in „Der letzte Mensch auf dem Mars“ zum Beispiel, einem anderen Stück von Christiane Kalss, die sich zunächst eine Marsmission auf die Fahne schreibt, um sie kurze Zeit später für ein prestigeträchtigeres Vorhaben aufzugeben, ganz gleich, ob das Opfer fordert. In diesem Fall die weibliche Hauptfigur, die alleine auf dem Mars zurückgelassen wird.

Oder eben die Gemeinde in „Die Erfindung der Sklaverei“, die sexuelle Verfehlungen ihrer Vorsitzenden beschönigt darstellt und sie dadurch aus der Welt schaffen will, während sie parallel dazu die Bürger für ihre eigenen Zwecke (die Aufrechterhaltung der Gemeinde und ihrer Idylle) missbraucht. Und alles immer nur solange, bis sich eine bessere Möglichkeit bietet. Unheimlich daran ist, dass alle sich dieses Vorgehen ohne ein einziges Widerwort gefallen lassen. Damit gelingt Christiane Kalss eine Zustandsbeschreibung unserer Welt und ihrer Mechanismen mit aktuellen politischen Bezügen, die geschickt eingebunden werden, ohne platt daher zu kommen.

Die soziale Situation ist geprägt von Unsicherheit, von einem absurden Verhältnis der Individuen zur Bürokratie und den Institutionen, die sie umgeben. Institutionen, die noch vorgeben, ihnen zu dienen, sie aber im Grunde nur ausbeuten, ja geradezu versklaven. Dies gilt sowohl für das „System Dorf“ selbst als auch für die Fremden, die dort hinkommen. Das hat etwas Kafkaeskes, Monströses, ist aber immer gepaart mit Humor und verpackt in lakonische Dialoge.

Die Anleihen dafür nähme sie direkt aus der Realität, so die Autorin. „Ich klau gute Geschichten“, sagt sie selbst.  Zuerst gab es den Titel. Auch er steht für reale Tendenzen in der Gesellschaft, eine Zunahme von Arbeitsverhältnissen, die man als moderne Versionen von Sklaverei bezeichnen könnte: Arbeiten ohne Bezahlung, Herstellung von bedingungsloser Abhängigkeit und permanenter Verfügbarkeit.

„Die Erfindung der Sklaverei“ war dieses Jahr zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen und wird am 19. Oktober 2016 auch in einer szenischen Lesung am Staatstheater Karlsruhe präsentiert. Für März 2017 ist die Uraufführung im Theater Drachengasse in Wien geplant.

Sandra Schüddekopf

 

EURODRAM-MITGLIED AURÉLIE YOULIA ÜBERSETZT DAS STÜCK IM AUFTRAG VON EURODRAM INS FRANZÖSISCHE.

 

BIOGRAFIE DER AUTORIN

CHRISTIANE KALSS, geboren 1984, aufgewachsen in der Obersteiermark, lebt in Wien. Sie studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien und nahm 2008-2010 am Lehrgang Forum Text von uniT in Graz teil. Sie schreibt Dramatik.

Nominierungen, Preise, Stipendien (Auswahl): 2007 Nominierung für den Retzhofer Dramapreis — 2009 Jakob-Michael-Reinhold-Lenz-Preis für Dramatik der Stadt Jena für das Stück “Drinnen” — 2009 Dramatikerstipendium des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur — 2009 Teilnahme an stück/für/stück am Schauspielhaus Wien — 2010 Startstipendium für Literatur des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur — 2010 Einladung zu den Werkstatttagen des Wiener Burgtheaters — 2011 Wiener Dramatikerstipendium — 2014 Nominierung für den Leonhard-Frank-Preis des Mainfranken-Theaters Würzburg — 2015/2016 Stipendiatin der Drehbuchwerkstatt München — 2016 Nominierung für den Autorenpreis „Stück Auf!“ der Stadt Essen —Einladung zum Heidelberger Stückemarkt 2016.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

PORTRÄT: Henriette Dushe

Schaut man sich die Konstellationen in Henriette Dushes Stücken an, sind es immer wieder die Frauenfiguren, die faszinieren und im Vordergrund stehen. Das Drama „In einem dichten Birkenwald, Nebel“ beginnt zunächst mit drei Männern, die aus ihrem Leben fallen, weil sie aus verschiedenen Gründen zusammenbrechen. Da tauchen drei Frauen unterschiedlichen Alters aus dem Nebel auf und erfinden sich eine gemeinsame Geschichte oder stehen als Ärztinnen dem Chor der Burnout-Patienten bei. In „Lupus in Fabula“ trifft man drei Schwestern am Sterbebett des Vaters an, die durch dessen Verschwinden  in unterschiedlicher Weise auf sich selbst zurück geworfen sind.

Auch in „Von der langen Reise auf einer heute überhaupt nicht mehr  weiten Strecke“ stehen eine Mutter und ihre vier Töchter im Mittelpunkt des Geschehens, der Vater der Familie hat sich in sich selbst zurück gezogen und ist verstummt.

„Die Texte wandern durch die Köpfe in die Münder der anderen und wieder zurück durch den Mund eines Gegenübers in den Kopf einer anderen, nur die Mutter: ist und bleibt immer eine Mutter…“ – so beschreibt Henriette Dushe ihren Bühnentext für fünf Frauen, in dem nur die Mutter personifiziert wird, die vier Töchter teilen sich die Bezeichnungen „Eine, Andere, Einige“.

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Henriette Dushe (Copyright: C. Pitzke)

Das Stück, ausgezeichnet  2014 mit dem Autorenpreis „Stück auf!“ der Stadt Essen und am Theater Essen uraufgeführt in der Inszenierung von Ivna Žic, beschreibt die melancholische Geschichte einer Familie aus der ehemaligen DDR und lebt von seiner Musikalität.

Die  Mutter und ihre vier Töchter sprechen miteinander – aber der Text entwickelt eine Art Eigendynamik im Durcheinander-, Übereinander und Aneinander-vorbei-Reden. Erzählt wird die Erinnerung an die Ausreise der Familie aus der DDR, eine Reise in ein Land, das für den (nicht zu Wort kommenden) Vater  zu einem nie eingelösten Versprechen wurde. Die Figuren haben keine Namen, als hätten sie mit der Heimat auch die Identität verloren.

Sandra Schüddekopf, die die Szenische Lesung am Theater Leipzig beim 4+1 Festival einrichtete, schätzt den Text, weil er es schafft  „über die persönlichen Erinnerungen der Familie an ihre Ausreise hinaus etwas über die gesamtdeutsche Geschichte zu erzählen. Obwohl die Erinnerungen durch die Figuren wandern, sind die Figuren in ihren Beziehungen zueinander sehr klar. Der Text umkreist Gewissheit und Ungewissheit im Umgang mit Erinnerungen und spielt, auch in seiner Form, mit der Struktur von Erinnerungen.“

Die Mutter und ihre vier Töchter erinnern sich: an graue Anzügen mit wechselnden Gesichtern, an endlose Listen von Haushaltsgegenständen, das “Scheiß-Gärtchen” des Großvaters, die Waschbecken-Nische für Störenfriede im Klassenzimmer, die Brechanfälle der einen Tochter, den taubengrauen Bahnhof und an die traumatische Zugfahrt ohne Rückfahrschein aus der DDR, an den Vater, der das restliche Geld aus dem Zugfenster wirft, an die alle Sachen durchwühlenden Grenzbeamten und schließlich die Ankunft in einem niedersächsischen Provinzstädtchen.

Das Erinnerungsmaterial wird in Aufzählungen und rhythmischen Wiederholungen immer wieder neu sortiert und wirkt durch die Musikalität der Sprache wie ein sehr genau durchkomponierter gemeinsamer Gesang von der Mutter und ihren Töchtern.

Das Leipziger Festival  4+1, auf dem EURODRAM das Stück präsentierte, war ein Festival zur Nachwuchsdramatik im deutschsprachigen Raum, zu dem sechs Schreibschulen eingeladen waren: UniT Graz , die Universität für Angewandte Kunst in Wien sowie die Schreibschulen aus Hildesheim, Biel, Berlin und Leipzig.

Henriette Dushe hat selbst am UniT in Graz studiert und mit der Regisseurin der Uraufführung Ivna Žic an „Von der langen Reise…“ ursprünglich gemeinsam gearbeitet. Beide haben sich als Teilnehmerinnen des Forum Text kennengelernt – eine zweijährige künstlerische Begleitung mit Mentoring durch uniT in Graz.

Henriette Dushe stellt in einem Interview mit Magdalena Kotzurek dar, dass sich die UniT Graz nicht als Schule versteht, „die  von vornherein zu wissen meint, was sie vermitteln will. Hier stehen die einzelnen Autoren mit ihren Schwerpunkten in Thema und Form und Sprache im Vordergrund. Darüber hinaus ist die gesamte Ausbildung schon sehr früh vernetzt mit Schauspieler_innen und Regisseur_innen, so dass der interdisziplinäre Austausch über Theatralik die Textentstehung schon früh begleitet, das öffnet den Autor_innen natürlich alle Sinne, für die Bühne zu schreiben.“

Inka Neubert

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Beim 4 + 1 Festival am Schauspiel Leipzig.

HENRIETTE DUSHE stammt aus Halle/Saale. Von 2001 bis 2006 studierte sie in Potsdam KulturArbeit (Diplom im Fachbereich Angewandte Ästhetik). Von 2011 bis 2013 folgte ein Studium des Szenischen Schreibens an der uniT Graz. Von 2002 bis 2011 war sie Dramaturgin und Autorin beim freien Autoren- und Schauspielkollektiv unitedOFFproductions (Braunschweig/Berlin). Henriette Dushe lebt in Berlin.

Stipendien und Preise (Auswahl): 2008 Werkstattstipendium für Literatur der Jürgen-Ponto-Stiftung — 2009 Verleihung des Retzhofer Dramapreis für „MENSCHEN BEI DER ARBEIT“ (UA 2010 am Schauspiel Chemnitz) — 2010 Werkstattstipendium für „SPRACHLOS DIE KATASTROPHEN IM BEREICH DER LIEBE“ am Staatstheater Mainz — 2013 J.M. R. Lenz-Preis für Dramatik der Stadt Jena für „IN EINEM DICHTEN BIRKENWALD, NEBEL“ sowie Autorenpreis des Heidelberger Stückemarktes für „LUPUS IN FABULA“ — 2014 Autorenpreis „Stück auf!“ der Stadt Essen für „VON DER LANGEN REISE AUF EINER HEUTE ÜBERHAUPT NICHT MEHR WEITEN STRECKE“ — 2014 Christian-Dietrich-Grabbe-Preis für „IN EINEM DICHTEN BIRKENWALD, NEBEL“

Die Stücke von Henriette Dushe werden vertreten vom Henschel Schauspiel Theaterverlag.

 

EURODRAM wird „Von einer langen Reise auf einer heute überhaupt nicht mehr weiten Strecke“ ins Polnische übersetzen lassen. Die Übersetzerin ist Dr. Iwona Uberman.

 

 

AKTIVITÄTEN: Lesungen beim 4+1-Festival 2016

Am 2.4. 2016 fand im Rahmen des 4+1-Festivals in Leipzig die erste EURODRAM-Veranstaltung mit der Auswahl 2016 statt, eine Kooperation mit dem Schauspiel Leipzig.

Mitglieder des Ensembles sowie Anna Schmidt und Anjorka Strechel als Gäste lasen je zwanzigminütige Ausschnitte aus den Texten, eingerichtet wurden die Lesungen von Mitgliedern des EURODRAM-Komitees selbst.

Besonders gefreut hat uns, dass die Autorinnen Henriette Dushe und Christina Kettering und Maxi Obexers Ko-Autor Lars Studer nach Leipzig kommen konnten und im Anschluss an die jeweilige Lesung einige Fragen zu ihrem Stück und ihren Erfahrungen mit Übersetzungen beantworteten.

Darüber hinaus haben wir nochmal die generelle Arbeitsweise von EURODRAM und die Ziele unseres Netzwerks vorgestellt.

Vielen Dank an das Schauspiel Leipzig für die Kooperation und an alle an der Veranstaltung Beteiligten.

Und natürlich auch einen herzlichen Dank an das Publikum für euer Interesse und zahlreiches Erscheinen, trotz der recht frühen Stunde!

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Lesung EURODRAM am Schauspiel Leipzig. (Copyright: R. Arnold)

EURODRAM beim 4+1-Festival

LESUNG 1

Maxi Obexer / Lars Studer: ILLEGALE HELFER.

Einrichtung der Lesung: Katharina Stalder.

Es lasen: Anna Schmidt, Lara Waldow; Loris Kubeng, Markus Lerch, Florian Steffens.

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Katharina Stalder bei der Vorstellung des Stückes. (Copyright: R. Arnold)

LESUNG 2

Henriette Dushe: VON EINER LANGEN REISE AUF EINER HEUTE ÜBERHAUPT NICHT MEHR WEITEN STRECKE.

Einrichtung der Lesung: Sandra Schüddekopf.

Es lasen: Anna Schmidt, Bettina Schmidt, Anjorka Strechel, Lara Waldow.

LESUNG 3

Christina Kettering: ANTARKTIS.

Einrichtung der Lesung: Inka Neubert

Es lasen: Bettina Schmidt, Lara Waldow; Loris Kubeng, Markus Lerch.

Moderation: Ulrike Syha

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Im Gespräch mit Ko-Autor Lars Studer („ILLEGALE HELFER“). (Copyright: R. Arnold)

Leider konnte bei der Veranstaltung noch nicht bekanntgegeben werden, in welche Sprachen die jeweiligen Texte übersetzt werden. Wir haben die Zielsprachen intern aber bereits festgelegt und sind mit Übersetzern im Gespräch. Die Bekanntgabe erfolgt voraussichtlich Ende April.

Ulrike Syha

 

 

 

AKTIVITÄTEN: Unsere Arbeit

Wir haben in den letzten Monaten an die 150 Theatertexte in allen Farben und Formen gesichtet.

Von noch unbekannten Autoren bis zu dramatischen Schwergewichten war alles dabei, unterhaltsame Komödien, Tragödien in Versform, Kinder- und Jugendtheater, Dokumentarisches, Experimentelles, thematisch Brandaktuelles und sehr Persönliches.

Nun befinden wir uns auf der Zielgeraden für die Endauswahl.

Bekanntgabe der diesjährigen Ergebnisse aller Eurodram-Komitees ist voraussichtlich am 15. März 2016.

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Die erste Veranstaltung des Deutschsprachigen Komitees von EURODRAM findet am 2. April 2016 um 11.30 Uhr im Rahmen des 4+1-Festivals am Schauspiel Leipzig statt.

Früh – aber es gibt neben Lesungen und Gesprächen auch Kaffee und Croissant im Angebot.

Dort stellen wir die drei Texte der Auswahl 2016 und die Autoren dahinter vor.

Die Lesungen richten ein: Sandra Schüddekopf (A), Inka Neubert (D), Katharina Stalder (F).

Mehr Informationen hier: Website Schauspiel Leipzig

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Schon etwas früher starten unsere Kollegen in Frankreich an der Maison d’Europe et d’Orient in Paris mit ihrem Festival „L’Europe des Théâtres“ – eine europaweite Veranstaltungsreihe, deren Teil auch wir mit unserer Leipziger Lesung sind.

Das Programm in Paris (und die anderen europäischen Kooperationspartner) finden sich hier:

http://www.sildav.org/festivals/leurope-des-theatres

 

 

AKTIVITÄTEN: Lesung am 31.Mai am Nationaltheater Mannheim

Wir freuen uns, dass unsere erste EURODRAM-Veranstaltung im deutschsprachigen Raum einen so regen Zuspruch gefunden hat.

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Lesung „DIE PRÜFUNG“.
© H. Bochert

Wir danken dem Nationaltheater Mannheim für die Kooperation, besonders natürlich den lesenden Schauspielern, Inka Neubert und Sandra Schüddekopf für die Einrichtung der Texte, der Autorin Maria Tryti Vennerød und der Übersetzerin Sabine Heymann für die Gespräche, den angereisten Komiteemitgliedern und Zuschauern für ihr Kommen und die lebhafte Diskussion, sowie den beteiligten Verlagen und Agenturen (Per H. Lauke Verlag, Nordiska Agentur, Agencja Dramatu) für ihr Entgegenkommen und Theater Heute für die unterstützende Werbung.

Wir freuen uns schon auf die nächste EURODRAM-Veranstaltung im Herbst in Wien am Theater Drachengasse.

Ragna Pitoll liest
Ragna Pitoll liest „EINE NICHT UMERZIEHBARE FRAU“
© H. Bochert

Lesung 1:

Stefano Massini: Eine nicht umerziehbare Frau. (Aus dem Italienischen von Sabine Heymann.)

Mit: Ragna Pitoll.

Einrichtung: Inka Neubert

Lesung 2:

Maria Tryti Vennerød: Die Prüfung. (Aus dem Norwegischen von Nelly Winterhalder.)

Mit: Michaela Klamminger, Reinhard Mahlberg, Matthias Thömmes, Ragna Pitoll, Sven Prietz.

Einrichtung: Inka Neubert

Lesung 3:

Malgorzata Sikorska-Miszczuk: Der Koffer. (Aus dem Polnischen von Andreas Volk.)

Mit: Michaela Klamminger, Boris Koneczny, Jacques Malan, Ragna Pitoll.

Einrichtung: Sandra Schüddekopf

Moderation:

Henning Bochert, Stefanie Gottfried, Ulrike Syha

Lesung
Lesung „DER KOFFER“.
© H. Bochert

Und das sagt die Presse:

http://www.morgenweb.de/nachrichten/kultur/regionale-kultur/umerziehen-unerwunscht-1.2271336

Zuschauer bei der Abschlußdiskussion. © H. Bochert
Zuschauer bei der Abschlußdiskussion.
© H. Bochert
Stefanie Gottfried im Gespräch mit Sabine Heymann. © W. Barth
Stefanie Gottfried im Gespräch mit Sabine Heymann.
© W. Barth
Abschlußdiskussion. © W. Barth
Abschlußdiskussion.
© W. Barth