Marina Skalova: DER STURZ DER KOMETEN UND DER KOSMONAUTEN

aus dem Französischen von Marina Skalova und Frank Weigand

            Ein Stück über Liebe, dieses « oberflächlichste und ungenaueste Wort », wie Bernard-Marie Koltès als Motto des Stückes sagt.

Drei Tage, vier Nächte – und ein paar Milliarden Lichtjahre – auf den Strassen von Berlin nach Moskau, wo Vater und Tochter versuchen, einander zu verstehen. Vielleicht. Ein bisschen.

Der Vater, Doktorand in der UdSSR, hat in Frankreich, kurz vor dem Fall der Berliner Mauer, keine interessante Arbeit gefunden und musste sich mit temporären Aufenthaltsgenehmigungen herumschlagen. Das vermeintliche Paradies hat sein Versprechen nicht gehalten. Heute ist er Geschäftsmann, Import-Export – das heisst, dass er in Westeuropa für russische Kunden Autos kauft und diese nach Russland fährt. Die Tochter, zweite Einwanderergeneration, als Kind nach Frankreich gekommen, hat nur noch lückenhafte Erinnerungen an ihre ersten Lebensjahre in der Sowjetunion. Sie arbeitet an ihrer Dissertation, ist voll integriert, hat aber nur wenig Verständnis für die Probleme und die Sichtweise des Vaters – der ihr wiederum ihr allzu französisches Wesen vorwirft. Vor der Wende war alles einfach: Es gab die Sowjetpropaganda und diejenige aus dem Westen. Und da man erstere als Lüge ansah, glaubte man zwangsläufig, dass letztere die Wahrheit sei. Die Tochter (er)lebt jedoch heute einerseits eine Ernüchterung, andererseits eine Befreiung: Der Westen ist auch kein Paradies, aber sie profitiert von den Möglichkeiten und der Freiheit der neuen Epoche. Eine Freiheit, die den Vater, der nie gelernt hat, aus Dutzenden von Wurstsorten oder Uniabschlüssen auszuwählen, überfordert.

Stückweise, durch freie Assoziation, erzählt der Vater seine Geschichte, die Geschichte der Familie, vor und nach dem Umzug in den Westen. In parallelen Monologen von Vater und Tochter erfahren wir auch einiges über das, was sie einander nicht sagen, was sie aber beschäftigt: Er möchte in Moskau nicht nur Autos verkaufen, sondern auch seine Einsamkeit mit einer jungen Mascha-Irina-Julia-Olga-Tatjana-…, die er über ein Dating-Portal kontaktiert, vergessen. Sie versucht, mit dieser Reise eine fehlgeschlagene Liebesgeschichte zu vergessen. Der Dialog ist nicht einfach, aber auch wenn sie sich oft streiten, kommen sie sich etwas näher. Ein letzter, diesmal reeller, Crash auf der Landstraße Minsk-Mogilev, um Punkt 12 Uhr « sprengt die Familienkonstellationen »: Ende der Familie, Vater und Tochter sind atomisiert. In der nächsten Szene treiben « Er » und « Sie » im Weltraum – wie auch Phrasen und Sätze, die sie durchs Stück hindurch gesagt haben: Remix Vater, Tochter und ihre Worte. Fazit: « Wir werden allein geboren wir sterben allein die restliche Zeit basteln wir Pflaster ».

Das Stück ist in einer rhythmischen und musikalischen Sprache geschrieben, und, wie bei einer Partitur, zeigt die Typographie Veränderungen in Rhythmus und Skandierung an. So sind etwa die beiden Szenen « Kata-Strophen I&II » und « Kata-Strophen III » in Textblöcken geschrieben: Vater und Tochter reden in einer Art « Stream of consciousness » aneinander vorbei, in diesen Texten ist der Klang der Worte wichtiger als ihre Aussage, wo die Bilder und Metaphern (Parallelen zwischen Drogen und Liebe, Anziehung und Abstossung von Planeten und Menschen, Endorphine und Gefühle, …) ineinander verwoben sind. Die Übersetzerin-Autorin hat, mit ihrem Mitübersetzer Frank Weigand, einen rhythmisch ebenso dichten Text auf Deutsch erschaffen. Man hat das Gefühl, dass Skalova und Weigand Passagen des französischen Textes in Puzzleteile zerlegt haben und damit auf Deutsch, durch Ideenassoziationen, ein neues Textbild kreiert haben, das dem Original ähnelt und ähnliche Klangbilder hervorruft. Ein Beispiel:

« craving crave creusent trachées l’estomac tranché traversées d’acide façon détergent ménager déteint donc en dedans détériore donc dedans craving crave le temps n’est pas un critère seule compte l’intensité le temps te cratère le temps te crevasse tu te cramponnes craving crave ton crâne crépite l’estomac scarifié craving crève les caresses te criblent sa langue creuse encore creuse lacère sa langue plus qu’un souvenir sa langue lacère te crible coups de cravaches creuse encore »

« craving crave Krätze im Magen Ritzen in den Röhren von Säure verätzt craving crave die Zeit kein Kriterium einzig zählt die Intensität die Zeit gräbt Krater in dich seziert zerreißt zerfetzt du klammerst dich fest craving crave der Magen voller Zacken der Kopf zerhackt craving crave krepier doch zerfall doch seine Zunge zerteilt dich zärtlich seine Zunge zerfurcht zerfranst gräbt sich in dich hinein grabe weiter grabe »

Die Musik der Sprachen ist auch da: Neben einigen Einsprengseln auf Englisch und Französisch ist es vor allem Russisch, das den Text phrasiert. Die Leserin, der Zuschauer haben selten eine Übersetzung oder Erklärung des Ausdrucks – es geht mehr um die Musik als um den genauen Sinn. Je näher sie an Moskau sind, je tiefer sie sich in die Familienpsyche eingraben, desto mehr Russisch schleicht sich in den Text – als ob das familiäre Unterbewusste allmählich auftaucht. Musik ist auch als solche omnipräsent: Vielen Szenen ist sozusagen ein « Titelsong » vorangestellt. Die Autorin lässt die Regisseur*innen entscheiden, ob sie die Musik ins Stück einbringen wollen oder nicht – aber dieses bildet, für Skalova, « das Unterbewusstsein des Textes ». Was die Liedtexte – die Teil des Textes sind – betrifft, empfiehlt die Autorin, « sie zu singen, zu rappen oder zu brüllen ».

« Ein Typ gibt einem Juden einen Globus und sagt zu ihm: Stell dir vor, du kannst dir aussuchen, wo du leben willst. Der Jude sieht den Globus ernst an. Er denkt nach. Er dreht ihn hin und her. Nachdem der Jude den Globus genau angeschaut hat, blickt er auf und fragt den Typen: Hätten Sie vielleicht noch einen anderen Planeten? »

(Ausschnitt aus DER STURZ DER KOMETEN UND DER KOSMONAUTEN von Marina Skalova)

Marina Skalova | Foto: Sandra Hildebrandt

Katharina Stalder: Wie sehr ist dieses Stück autobiographisch?

Marina Skalova: Der Weg von Deutschland nach Moskau über Weissrussland, wie er im Stück beschrieben wird, ist eine Route, die mein Vater tatsächlich über Jahre hinweg zurückgelegt hat. Fünfundzwanzig Jahre später wollte ich die Reise mit ihm machen. Die ersten Szenen des Stücks habe ich in jenem Moment geschrieben. Aber Elemente, die aus meinem möglichen Erlebten geschöpft sein könnten, sind vermischt mit anderen Elementen, die ich teils erfunden und teils aus Gesprächen mit Drittpersonen entnommen habe. Im Schreibprozess verwandeln sich erlebte Elemente in Sprache und somit in Fiktion. Der Wirklichkeitsbezug scheint mir nicht das Wesentlichste. Wirklich wahr aber ist der Eindruck, dass ich den Zusammenprall zwischen zwei Repräsentationssystemen der Welt stets in meinem eigenen Körper empfunden habe. In der Welt, aus der ich stamme, existiert das Private nicht. Die Idee, etwas für sich selbst zu machen oder individuelle Entscheidungen zu treffen, erscheint undenkbar und egoistisch, während unsere ganze westliche Konzeption gerade darauf beruht. Ich wollte dieses Hin- und Hergerissensein darstellen, und auch die Schwierigkeit, sich im Leben zurechtzufinden, wenn alle Werte, in denen man erzogen wurde, verschwunden sind.

KS: Wie fühlt sich das an, einen eigenen Text zu übersetzen? Wie seid ihr vorgegangen, Frank Weigand und du? Wie habt ihr euch die Arbeit geteilt? Wie die definitive deutsche Fassung erarbeitet?

MS: Wenn ich meine Texte schreibe, gehört das Übersetzen oft für mich zum Schreibprozess dazu. Mein erster Lyrikband, Atemnot (Souffle court), war zweisprachig. Das Buch beschäftigte sich mit der Verwandlung eines Textes in die andere Sprache, mit Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzung. Bei der Übersetzung des Stücks ging es zunächst darum, andere Sprachbilder zu finden, die sowohl auf semantischer als auch auf klanglicher Ebene stimmig waren. Frank Weigand hat eine erste Fassung erarbeitet, ich habe dann ganz viel reingeschrieben und wir haben uns den Text solange hin- und her geschickt, bis er für uns beide funktionierte. Ich bin als Autorin zunächst freier mit dem Text umgegangen, habe manche Szenen komplett umgeschrieben, versucht, Klang und Rhythmus wieder zu finden. In diesem Freiraum haben Frank und ich dann Ping-Pong gespielt. Spannend ist für mich, dass sich beim Übersetzen immer wieder Fragen auftun, die ich auch zurück an den Originaltext stelle. Das ist ein unendlicher Austauschprozess.

KS: Kannst du etwas mehr über die Musik – das Unterbewusstsein des Textes – sagen?

MS: Die Idee, dem Text eine Playlist hinzufügen, gefiel mir gut. Das Konzept des « Unterbewussten » des Textes ist aufgetaucht, als ich mit der Regisseurin Nathalie Cuenet, die die Uraufführung im POCHE/GVE in Genf gemacht hat, über das Theaterstück redete. Sie sagte mir, dass sie nicht alle vorgeschlagenen Musikstücke übernehmen wolle, dass sie lieber ihre eigene Tonspur kreieren würde – aber dass ihr die musikalischen Angaben wertvolle Hinweise über die Atmosphäre der einzelnen Szenen gäben. So ist diese Anmerkung zu verstehen. Die meisten Musikstücke geben der Szene eine Färbung und einen Rhythmus, sie widerspiegeln die seelische Welt der Figuren, in Ost und West geteilt. Der Text ist von einer Abfolge von Rockmusik, russischen und westlichen (amerikanischen und französischen) Schlagern geprägt; man findet hier den Kalten Krieg wieder. Die Russen kennen heute die westlichen Musik mehr oder weniger gut, das Gegenteil ist selten der Fall … Beim Übergang ins kyrillische Alphabet passieren wir auch heute noch einen eisernen Vorhang …

KS: Was genau bedeuten für dich die Kosmonauten und die Kometen des Titels?

MS: Das Stück geht von zwei Bildern aus: der Sturz der Kosmonauten, Sinnbilder der UdSSR, und derjenige der Kometen, die den Blitzschlag aus heiterem Himmel der Verliebten symbolisiert. Diese Bilder sind der Antrieb, der Rest entspinnt sich von da aus. In der UdSSR sind die Kosmonauten ein wichtiges Motiv der Vorstellungswelt, das in der urbanen Geografie, in Kinderbüchern und in der populären Mythologie allgegenwärtig ist … Ich wollte das Thema diese Weltraumutopie aufgreifen und daraus einen möglichen Horizont machen. Im Stück ist die Flucht in den Weltraum das, was den Figuren einen Öffnungsraum, eine Flucht und vielleicht eine Utopie erlaubt – sowohl im Kopf als auch konkret. Wie im jüdischen Witz, der im Stück zitiert wird, können sie ihren Platz in der Welt nur auf einem anderen Planeten finden. Was die interstellare Dimension des Stücks betrifft, würde ich sagen, dass mich die poetische Kraft der wissenschaftlichen Phänomene fasziniert. Ich schreibe vor einem Hintergrund von Bildern, die sich gegenseitig erzeugen, sich verweben und so wachsen. Der Weltraum ist ein weiter und starker Raum, der ganz sichtbar das Mikro- und Makroskopische aufeinanderprallen lässt – und so das, was uns Angst macht oder zu gross für uns ist, logisch erscheinen lässt. Die Weltraummetaphern können auf diese Weise sowohl die Anziehung als auch die Aufsplitterung erklären, so dass ich mit ihnen gleichzeitig über Liebe, Auseinanderbrechen und Individualisierung schreiben kann. Genau wie die Fels-, Metall- und Eisblöcke des Stücks, werden die poetischen Bilder aufgesprengt, verfestigt und wieder zusammengesetzt.

von Katharina Stalder

Aufruf zur Einsendung von Übersetzungen fremdsprachiger Theaterliteratur

EURODRAM ist ein europaweit agierendes Netzwerk, das sich der Förderung und Verbreitung von Theaterliteratur und deren Übersetzung verschrieben hat.

Das DEUTSCHSPRACHIGE KOMITEE nimmt in diesem Jahr wieder Übersetzungen von Theaterstücken ins Deutsche entgegen,

  • die in dieser Übersetzung bis zum Einsendeschluss noch nicht aufgeführt oder veröffentlicht wurden.
  • Ursprungssprachen können alle anderen europäischen Sprachen bzw. die Sprachen des angrenzenden Mittelmeerraumes und Zentralasiens sein.*
  • Die Übersetzungen sollten nicht älter als fünf Jahre sein; pro Übersetzer/in nehmen wir einen Text an.
  • Auch Verlage sind einsendeberechtigt; Verlage selbst können jeweils max. 3 Texte einreichen.
  • Von der Einreichung bereits in den Vorjahren eingesandter Texte bitten wir abzusehen.

Das DEUTSCHSPRACHIGE KOMITEE wählt aus den Einsendungen drei Texte aus, die 2019 am THEATER DRACHENGASSE/WIEN in szenischen Lesungen und Diskussionsrunden präsentiert werden, möglichst in Anwesenheit der Autoren/Autorinnen und Übersetzer/Übersetzerinnen.

Außerdem vergeben wir in Kooperation mit dem Bundeskanzleramt Österreich unter den in Österreich ansässigen Übersetzern/Übersetzerinnen ein Übersetzungsstipendium in Höhe von 1.300 Euro.

Den zu übersetzenden Text wählt der Übersetzer/die Übersetzerin in Absprache mit dem Deutschsprachigen Komitee aus den vergangenen Selektionen des entsprechenden anderen EURODRAM-Komitees aus. (Einsendungen von Übersetzern/Übersetzerinnen, die nicht in Österreich ansässig sind oder ausdrücklich nicht an dem Stipendium interessiert sind, sind dennoch herzlich willkommen.)

Wir verbreiten und bewerben die ausgewählten Texte gezielt unter Theatermachern und Fachleuten innerhalb und außerhalb des Netzwerks.

Texteinsendungen nimmt die Koordinatorin des Deutschsprachigen Komitees, Ulrike Syha, gerne unter syha@gmx.net entgegen.

Einsendeschluss ist der 10.1.2019.

Im Original auf Deutsch verfasste Texte, die in einer Übersetzung in eine der anderen Sprachen des Netzwerks vorliegen, können bis zum 31.12.2018 an die Koordinatoren des für die Zielsprache zuständigen Sprachkomitees geschickt werden.

Die Adressen finden Sie unter: http://www.eurodram.org

Bitte beachten Sie, dass die Modalitäten der einzelnen Komitees ggf. voneinander abweichen können.

Weitere Informationen zur Arbeitsweise von EURODRAM und zu unseren vergangenen Veranstaltungen und Projekten finden Sie unter: http://www.eurodram.wordpress.com

* Texte, die in einer Variante einer europäischen Ursprungssprache verfasst wurden, die auf anderen Kontinenten gesprochen wird (Amerikanisches, australisches oder indisches Englisch, mittel- und südamerikanisches Spanisch oder Portugiesisch etc.) können leider nicht angenommen werden.

PORTRÄT: Mehdi Moradpour

UNBESCHRIEBENE ORTE

Die Regisseurin Sandra Schüddekopf im Gespräch mit Mehdi Moradpour über seinen Text EIN KÖRPER FÜR JETZT UND HEUTE

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Der Autor Mehdi Moradpour. – Copyright: Neda Navaee

 

Man könnte sagen, dass in „Ein Körper für Jetzt und Heute“ andere Landschaften vorkommen, als wir sie jetzt so kennen, also rein von den sprachlichen Bildern her. Deine Sprache oder die Bilder, woraus speisen die sich? 

In diesem Fall habe ich lange gebraucht für diese Bilder, für diese Landschaften, weil ich auf der Suche war, vor allem nach einem Rhythmus. Also, den Ablauf des Hauptteiles hatte ich mehr oder weniger im Kopf. Das war hauptsächlich am Strand und voller Traumlandschaften. Aber ich wollte auch die Geschichte oder die Aufstiegsgeschichte von Elias erzählen, der aus dem Dorf in die Stadt kommt und dann weiterzieht, in ein anderes Land und in eine andere Landschaft, mit einem anderen Körper. Und immer weiter will. Bei dieser Suchbewegung sind verschiedene Textsorten und Rhythmen entstanden: Flächentext, Monolog, Textkörper oder Figurenrede.

Tatsächlich beziehe ich mich auf eine Mischung aus, sagen wir, ungefähr fünf Großstädten und Dörfern, die ich kenne, wo ich aufgewachsen bin, wo meine Eltern herkommen, Orte in Brasilien und Kuba, wo ich Ähnlichkeiten gefunden habe. Aber ich habe auch mit Absicht ein bisschen scheinbare Widersprüche eingebaut. Also, das sind die realistischen Bilder, die ich im Kopf hatte. Sprachlich verschiebe ich das nur. Ich versuche für das konkrete Bild manchmal noch mal ein Adjektiv oder eine Eigenschaft zu nehmen, die das Bild etwas verschieben. Vulkanschlote und Schneeberge kann es dann zum Beispiel nebeneinander geben oder ein paar Kilometer voneinander entfernt.

 

Es sind im Endeffekt dann keine konkreten Orte, an denen das für dich spielt, sondern eigentlich eher so, wie diese Figur auf der Suche nach einem Körper ist, einem eigenen jenseits von Zuweisungen, funktionieren für dich die Orte im Prinzip auch?

Einerseits sind es konkrete Orte und andererseits universelle. Es ist ja prinzipiell so, dass ich aufgrund meiner Herkunft oder meiner Herkünfte etwas vorsichtig bin. Selbst in Teheran bin ich manchmal jemand, der nicht „ursprünglich“ von da ist, sondern aus dem Norden. Und selbst im Norden waren Teile der Familie meiner Eltern Menschen, die nicht von dort sind, sondern „ursprünglich“ aus der ehemaligen Sowjetunion.

Bei allen Texten versuche ich natürlich eine konkrete Situation zu schaffen. Zum Beispiel geht es in „Türme des Schweigens“ um kommunistische Eltern mit einem muslimischen Hintergrund, die können aber aus 20 Ländern kommen. Ich versuche trotz einer konkreten Situation, eine Universalität zu schaffen. In diesem Fall ist es zum Beispiel klar, dass die Anfangssituation (Transsexualität erlaubt / Homosexualität nicht erlaubt) im Iran spielen kann. Ich denke, es ist in einigen Ländern in der Welt auch ähnlich. Aber ich versuche keine Namen zu nennen. Es geht nicht um Beliebigkeit, sondern um realistische Tatsachen, die keine extra Zuweisungen brauchen. Deswegen es stimmt schon, dass ich versuche, dadurch den Zuschreibungen zu entkommen, zugleich will ich nicht relativieren. Es ist klar, es geht um eine religiöse Familie aus einem islamischen Hintergrund. Der Sohn hat aber einen jüdischen Namen, was oft vorkommt. Und er will am Ende wie ein Jesus auf einem Kreuz liegen. Also irgendwie habe ich auch versucht, Bilder von drei monotheistischen Religionen zu verwenden. Das geschah aber am Anfang intuitiv.

 

Was für eine Vorstellung von Religion ist für dich damit verknüpft?

Judentum, Christentum und Islam haben viele Gemeinsamkeiten. Regeln für das Zusammenleben, Rituale, Symbolik, Grundpflichten oder die Heilsgeschichte: Da überschneidet sich viel. Sie sind seit Jahrtausenden im ständigen Dialog, oder Trialog, gewesen. Oder eben im Streit, im Krieg. Für mich trägt Elija, der sich selbst ab einem gewissen Zeitpunkt sehr prophetisch wahrnimmt, etwas von allen drei Religionen in sich.

 

Die Sprecherpositionen deiner Figuren sind sehr klar, das ist eine Qualität, die der Text hat. Gleichzeitig gibt es sehr viele Themen, die darin vorkommen. Neben der Transsexualität oder der Verwandlung des Körpers wird das Thema des Funktionierens des Körpers, anhand der Notwendigkeit einer Nierentransplantation für eine der Figuren, verhandelt. Man hat das Gefühl, es werden Themen angerissen, und das eröffnet viel Raum, über diese nachzudenken, gleichzeitig ist es nicht so leicht, all diese Ebenen, wenn ich den Text nur einmal höre, zu erschließen. Gibt es für dich eine Vorstellung, wie der Zuschauer als Theaterzuschauer damit umgehen könnte?

Ich versuche erst mal, eine eigene Realität innerhalb des Textes zu schaffen. Eine eigene Gesetzmäßigkeit innerhalb des Textes. Etwas, das kein reines Festland ist. Wahrscheinlich wuchert es deshalb auch ein wenig und es gibt manchmal viele Ebenen, weil jede Realität komplex ist. Irgendwann ist aber klar, welche Hauptthemen es gibt. Wichtig ist für mich die Zugänglichkeit der Zuschauenden zu einem oder mehreren Bereichen.

Ich gebe aber auch gleichzeitig zu, dass ich manchmal Schwierigkeiten habe, permanent zu denken, da sitzen Leute und schauen hin. Das kann mich oft beflügeln, aber manchmal denke ich auch, bestimmte Teile und Landschaftsbeschreibungen gehören für mich zwar dazu, das könnte aber in den Theaterraum nicht so einfach hineinpassen oder zu den Textteilen, die griffiger sind, dann denke ich, dass ist ja auch nicht immer meine Aufgabe, zum Glück.

 

Es gibt ja auch Abschnitte, die ich auf einer atmosphärischen und nicht rationalen Ebene verstehen kann. Trotzdem beschäftigt mich als Regisseurin dieses Wuchern der Sprache und der Themen für eine mögliche Umsetzung auf der Bühne. Auch für eine Übersetzung ist dieser Text ja eine sehr große Herausforderung.

Ja, eine erfahrene Übersetzerin, mit der ich arbeite, hat gesagt, das ist sicher einer meiner schwierigen Texte, aber sie übersetzt ihn gerade ins Englische. Weil es für sie wie eine Reise ist, und ich liebe es, im Prozess der Übersetzung permanent in Kontakt zu sein. Das mache ich auch, wenn ich selbst übersetze. „Mumien. Ein Heimspiel“ wurde ins Italienische übersetzt, da gibt es auch dichte Stellen am Ende und da kam die Übersetzerin mit italienischen Beispielen, und da ich Spanisch kann und sie auch ein bisschen, hat der Austausch gut funktioniert. Irgendwann bin ich darauf gekommen, sie soll sehr frei arbeiten.

 

Ihr seid also über mehrere Sprachen gegangen?

Genau. Ich bin der Meinung, wir müssen Verluste in Kauf nehmen, für mich ist es viel wichtiger, dass der Übersetzer / die Übersetzerin ein gutes Gefühl hat, auch für das Land, wo der Ausgangstext gelesen oder gesehen werden soll.

Mumien hat ja schon im Titel ein Heimspiel. Und es spielt im und in der Umgebung eines Asylbewerberheims. Und diese Doppelung funktioniert natürlich in anderen Sprachen nicht. Ich spiele da außerdem mit den Begriffen „heimlich“, „unheimlich“, „heimelig“, „heim gehen“, „heim sterben“ und habe da auch manche Paarungen erfunden. Und dann habe ich gesagt, versuch mal, wo du kannst, Paare zu bilden, und wenn es nicht geht, dann bilde sie an anderen Stellen. Nicht nur semantisch, sondern auch klanglich.

 

Mich erinnert die Thematik von „Ein Körper für Jetzt und Heute“ auch an A Manifesto for Cyborgs von Donna Haraway, einen Text aus den 80er Jahren.

Elija geht es ja um die Zukunft des Körpers, um die Allianzen zwischen Organismus und Maschine, also um dieses Cyborg-Werden, sich auflösen und in einem unbeschriebenen Ort neu zusammensetzen, zugleich darum, sich eine neue Welt vorzustellen, wo neue soziale Strukturen und Fragen permanent behandelt werden. Denn das ist ein Stück, in dem es primär um die soziale Neugestaltung der Welt geht, als nur um isolierte Identitätskonzepte oder Verschiebung des Menschseins.

 

Noch mal zur sozialen Frage der Körper – der Gedanke, dass so ein technisierter Körper jenseits der Zuschreibungen etwas positiv Grenzüberschreitendes sein kann, spielt ja heute eigentlich keine Rolle mehr, weil die Idee der Optimierung der Körper in den Vordergrund gerückt ist: Da finde ich interessant, dass du dich jenseits der Optimierung mit der Frage beschäftigst, was kann überhaupt ein Ort jenseits der Zuschreibungen sein und wie können wir dort hingelangen. Also mit der Suche nach dem utopischen Moment dieser Körper.

Ja. Ich hatte eine ältere Version, wo der Fokus nur auf rein utopischer Gestaltung lag. Im Laufe des Schreibens ist mir aber dann klar geworden, es wird doch auch eine Geschichte sein, wo Elija scheitert. Weil er prophetische Visionen hat und jeden Einsatz von technischen und medizinischen Mitteln prinzipiell zuerst bejaht, um sein Ziel zu erreichen, scheitert er. Und das öffnet die Debatte, denke ich. Er behauptet, ich vergesse meine soziale Herkunft nicht. Zwar ist meine Cousine eine Reiche, die eine Ölfirma hat, aber ich denke bei der Überwindung der körperlichen Einschränkungen immer an die soziale Frage und neue Allianzen. Er überlegt sich: Wie können wir anhand der Technik neue Widerstandsbewegungen schaffen? Wir hatten eine Lesung in Berlin, und bei der Besprechung lag der Fokus darauf, dass wir die Technik nicht komplett sozial steuern können. Am Ende bin ich an den Punkt gekommen, dass es vielleicht besser ist, dass er – oder sie  daran scheitert, um diese Fragen in den Raum zu werfen.

Bezüglich der technischen Möglichkeiten war es so: Je mehr ich konkretisiert habe, was Elija für seine Utopie haben und wollen könnte, umso mehr merkte ich, die Technik ist schon vor zehn Jahren weiter gewesen, als ich ihn denken lassen könnte. Ich würde sagen, ich belasse das Thema ambivalent, weil es immer so bleiben wird, und zeige damit ein bisschen, dass eine ruckartige utopische Grenzüberschreitung an den Forderungen der Gesellschaft scheitern kann.

Haraway sieht das Cyborg-Werden ja auch positiv, würde ich sagen. Das kann man so vielleicht aus der heutigen Perspektive nicht mehr nur so sehen. Es wird letzten Endes immer eine Mischung aus beidem sein. Utopische Visionen schlagen neue Schneisen, sie zwingen uns, aus dem Gewohnten herauszutreten, um das Gewöhnliche überhaupt erst sehen zu können. Gefahren sind dabei produktive Kollateralschäden.

 

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Illustration zur Uraufführung am Schauspielhaus Wien. – Copyright: Schauspielhaus Wien

IRYNA HERASIMOVICH übersetzt EIN KÖRPER FÜR JETZT UND HEUTE durch Vermittlung von EURODRAM aktuell ins Belarussische; gefördert mit einem Übersetzungsstipendium des Goethe Instituts.

 

KURZBIOGRAPHIE 

Mehdi Moradpour, geboren in Teheran, ist Autor, Übersetzer und Dolmetscher (Farsi / Dari und Spanisch) und lebt seit 2001 in Deutschland. Er studierte Physik und Industrietechnik in Iran und ab 2004 Hispanistik, Soziologie, Amerikanistik und Arabistik in Leipzig und Havanna. 2014 bis 2016 besuchte der den Lehrgang „Forum Text“ der Uni Graz.

Für MUMIEN. EIN HEIMSPIEL bekam er 2015 den Jurypreis des 3. Autorenwettbewerbs der Theater St. Gallen und Konstanz; für TÜRME DES SCHWEIGENS den exil-DramatikerInnen-Preis 2016 der Wiener Wortstätten. Im selben Jahr wurde sein Musiktheaterstück CHEMO BROTHER an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt. Er erhielt 2017 den Christian-Dietrich-Grabe-Preis für REINES LAND.

 

RECHTE:

Suhrkamp Verlag

Kontakt: theater@suhrkamp.de

 

 

 

 

Raoul Biltgen: DER FREIE FALL

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Raoul Biltgen. – Foto: G. Huberty

DER FREIE FALL ist ein Stück für drei DarstellerInnen, das sich mit unerwartet leichten Mitteln dem Thema „Radikalisierung“ annähert. Die Uraufführung fand im Januar 2016 in Wien am Theater Jugendstil statt. Kannst du uns etwas über den Entstehungsprozess erzählen? Wie stark warst du als Autor in die Proben eingebunden?

DER FREIE FALL war ein Auftragsstück vom Theater Jugendstil, das Thema Radikalisierung war vorgegeben. Der leichte Zugang war für mich von Anfang an sehr wichtig, ich habe nach einer Möglichkeit gesucht, die jungen Zuschauer für die Figuren auf der Bühne zu gewinnen, ohne dass sie sie gleich in Schubladen stecken: Nazi, Terrorist. Erst dann lasse ich die Figuren sich allmählich genau da hin entwickeln. Auf einmal sind sie Nazi und Terrorist. Damit erreiche ich, dass die Zuschauer bei der Entwicklung mitgehen und sie nachvollziehen können. All diese Sachen überlege ich mir als Autor, ehe ich das Stück schreibe und zu den Proben freigebe. Aber ich bleibe dabei, ich verfolge, wie in den Proben die Texte aufgenommen werden, ich kann jederzeit etwas ändern und auch auf Wünsche eingehen. In diesem Fall entstand zum Beispiel die Klammer mit den Superhelden am Anfang und Ende aus den Proben heraus, weil ich einen Superhelden-Vergleich geschrieben hatte, mit dem die SchauspielerInnen und der Regisseur nichts anfangen konnten.

 

DER FREIE FALL spielt unter Jugendlichen, das Stück richtet sich an ein jugendliches Publikum im Alter von 12 Jahren aufwärts. Verändert sich deine künstlerische Herangehensweise, wenn du für junge Menschen schreibst? Richtet sich der Text auch an Erwachsene?

Auf jeden Fall richtet sich das Stück auch an Erwachsene. Es gibt für mich keine Altersgrenze nach oben, nur nach unten. Weil es nun mal manche Themen gibt, mit denen Kinder noch nichts anfangen können, oder auch Herangehensweisen, die sich nicht auf ihr eigenes Leben umlegen können. Aber das ist es auch schon, was einen möglichen Unterschied im Schreiben für Kinder, Jugendliche oder Erwachsene angeht.

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Aus der Inszenierung des Theaters Jugendstil, Wien.

 

In den letzten Jahren wird viel über Theater als politischen Ort oder als Ort der politischen Debatten gesprochen. In welchem Verhältnis siehst du deine eigene Arbeit dazu? Ist DER FREIE FALL ein politisches Stück?

DER FREIE FALL ist ein politisches Stück, so wie jedes Stück, das die Gesellschaft behandelt, in der wir leben, auch eine politische Komponente hat. Allerdings hat dies nichts mit Parteipolitik zu tun. Ich sage nicht: So ist es richtig, so ist es falsch (was die Politik ja sehr gerne mal tut), sondern ich versuche, Gedanken und Gefühle von Menschen nachvollziehbar zu machen. Dass dies dazu führt, anderen Menschen offener gegenüberzutreten, sie anders zu sehen, und zwar als gar nicht mal so verschieden, ist gewünschter Nebeneffekt. Und auf jeden Fall gesellschaftspolitisch von Bedeutung.

 

Du stammst aus Luxemburg, lebst aber bereits seit vielen Jahren in Wien. Du schreibst auf Deutsch – hast du deine Stücke auch schon in Übersetzung erlebt? Wenn ja, was waren deine Erfahrungen damit? Und wurde DER FREIE FALL auch schon mal in Luxemburg gezeigt?

Es gibt zwar ein paar wenige Übersetzungen von Stücken von mir, gespielt wurde aber bis jetzt nur eine, und zwar auf Sorbisch. Leider habe ich die Inszenierung nicht sehen können. Ich habe auch ein paar Stücke auf Luxemburgisch geschrieben, die ich dann selbst ins Deutsche übersetzt habe, die Übersetzungen sind aber noch nicht gespielt. DER FREIE FALL war bis jetzt nur in der Wiener Uraufführungsinszenierung in Österreich zu sehen. Da es aber neben der EURODRAM-Auswahl auch auf die Shortlist des Niederländisch-Deutschen Kinder- und Jugenddramatiker-Preises gekommen ist, hoffe ich auf ein wenig Aufmerksamkeit, dass sich auch andere Theater dafür interessieren. Das Thema wäre ja recht aktuell.

 

EURODRAM hat dem Übersetzer Greg Liakopoulos ein Stipendium des Bundeskanzleramts Österreich vermittelt, um den Text ins Griechische zu übersetzen. Wir freuen uns auf die Übersetzung und sind gespannt, welche Reaktionen DER FREIE FALL in Griechenland auslösen wird. In welche andere europäische Sprache hättest du persönlich eine Übersetzung noch interessant gefunden?

Es geht mir weniger um die Sprache als mehr um ein Land, in dem das Stück dann hätte gespielt werden können. Wie würde man auf meine Herangehensweise an das Thema in Ungarn reagieren? Oder in Frankreich? Italien? Wie ist die Situation in den nordischen Ländern? All das würde mich sehr interessieren. Aber ich weiß auch absolut nicht, wie das Thema gerade in Griechenland behandelt wird, ob es vergleichbar mit dem ist, was wir in Österreich und Deutschland erleben. Auch das durch die Übersetzung zu erfahren, wird noch sehr spannend.

 

Du bist ausgebildeter Schauspieler, hast aber auch als Dramaturg gearbeitet und in den letzten Jahren vermehrt als Psychotherapeut. Wie beeinflussen diese unterschiedlichen Berufszweige dein Schreiben?

Dass ich Schauspieler bin, führt dazu, dass ich sicher sehr praktikabel schreibe, sehr nah an den Figuren bin, es geht mir nicht um irgendwelche verkopften Gedankengänge, die ich mir zuhause austüftele, sondern darum, was auf die Bühne zu bringen. Und ich schreibe sicher auch Texte, die den Schauspielern Futter geben, dass sie was zum Spielen haben. Auch wenn sie sich am Anfang immer darüber beschweren, dass meine Sprache so schwer zu lernen ist. Stimmt nämlich gar nicht. Aber da kommen sie dann schon drauf. Die Dramaturgie hat mich Bescheidenheit gelehrt, vor allem als Schauspieler. Es geht in einem Stück nicht nur um die Hauptrolle. Warum sollte es mir dann als Schauspieler immer nur darum gehen, so viel Text wie möglich zu haben. Die Psychotherapie hat mich sicherlich dazu gebracht, ein anderes, wesentlich tiefer gehendes Menschenbild zu (be)schreiben. Ich erkenne viel mehr, wie „normal“ die meisten Leben sind. Und dass eben aus dieser (vermeintlichen) Banalität auch was Ungewöhnliches entstehen kann. Und dass es genau das ist, was interessant ist. Die außergewöhnlichen Menschen, die von vorneherein etwas Spezielles an sich haben, gerade in Film, Fernsehen und Theater die sogenannten „Bösen“, haben nichts mit uns zu tun. Dafür sind es viel zu wenige. Es werden extrem wenige Menschen durch psychopathische Serienkiller in Clownsmasken dahingemetzelt, aber sehr viele von dem Menschen erschlagen, den sie lieben.

 

Das Gespräch führte Ulrike Syha.

 

INHALTSZUSAMMENFASSUNG

In DER FREIE FALL beschäftigt sich Raoul Biltgen mit dem hochaktuellen Thema „Radikalisierung der Jugend“.

Die beiden Hauptfiguren, Karin und Karim, kommen aus dem rechtsradikalen bzw. fundamentalistisch-islamischen Milieu. Die potentielle Rechtsradikale und der theoretische Dschihadist lernen sich beim Tanzen kennen. Karin und Karim erzählen die Geschichte einer möglichen Radikalisierung und die Geschichte einer beinahe unmöglichen Liebe. Klischees und Vorurteile prallen auf-einander und lassen trotz gegenseitiger Anziehung eine wirkliche Annäherung nicht zu.

2 D / 1 H – ab 12 Jahren

Rechte: Thomas Sessler Verlag, Wien (http://sesslerverlag.at/theater/kontakt/)

 

BIOGRAPHIE

Raoul Biltgen, geboren 1974 in Luxemburg, lebt und arbeitet als freier Schriftsteller, Schauspieler und Theatermacher in Wien. Seit 2015 arbeitet er zusätzlich als Psychotherapeut bei der Männerberatung Wien, am Institut für Forensische Therapie und in der Justizanstalt Sonnberg. Raoul Biltgen war schon dreimal für den Glauser-Preis nominiert (2014 und 2017: Bester Kurzkrimi, 2018: Bester Roman). 2017 war er Preisträger des Niederländisch-Deutschen Kinder- und Jugenddramatikerpreises für „Robinson – meine Insel gehört mir“. 2018 war die Uraufführungsproduktion seines Theaterstücks „Parzival“ für den Stella – Darstellender.Kunst.Preis für jungen Publikum nominiert. Zuletzt erschien sein Roman „Schmidt ist tot“ beim Verlag Wortreich.

www.raoulbiltgen.com

www.adamspricht.com

 

 

STIPENDIUM 2017: Blažena Radas übersetzt Olga Dimitrijević

von Henning Bochert

Dank der Förderung durch den Deutschen Literaturfonds konnte das deutschsprachige Eurodram-Komitee ein Stipendium für eine der Übersetzerinnen der 2017 als besonders empfehlenswert ausgewählten Theaterstücke vergeben. Diese Förderung sollte zur Übersetzung eines Stücks aus der Auswahl eines anderen Sprachkomitees des Netzwerks ins Deutsche verwendet werden.

Das Stipendium ging an Blažena Radas, Übersetzerin von Ivor Martinićs Stück DRAMA ÜBER MIRJANA UND DIE MENSCHEN UM SIE HERUM. Blažena Radas wählte zur Übersetzung das Stück MEIN DU von Olga Dimitrijević in Absprache mit dem bosnisch-kroatisch-montenegrinisch-serbischen Eurodram-Komitee (https://eurodrambcms.info).

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Die Übersetzerin Blažena Radas.

Dimitrijevićs Theaterstück erzählt von Dragica, einer alten Belgraderin, deren Lebensgefährtin Ivana in hohem Alter stirbt. Sogleich versucht Ivanas Sohn, sie aus der gemeinsamen Wohnung zu scheuchen. Nach dem Begräbnis – konfessionell, obwohl die begrabene Antifaschistin auf die Kirche pfiff – trifft sie auf der Straße eine alte Freundin, bei der sie Trost findet. Als wiederum deren Freundin, eine frühere Rechtsanwältin, von dem Vertrag des betagten Paares über den Wohnungsanspruch hört und dass der zuständige Richter ein wichtiges Dokument hat verschwinden lassen, fährt sie im Gericht ihren ganzen verbliebenen Einfluss auf und nötigt den Richter, das Dokument beizubringen und den Prozess ordentlich zu führen. Dass außerdem noch der Ivanas Geist erscheint und Mut spendet, ist für den Rechtssieg schon nicht mehr nötig, sondern wird erst relevant, als der Grobian von Sohn die Wohnung auch trotz des Gerichtsbeschlusses nicht räumen will. Konfrontiert mit der energischen Erscheinung seiner toten Mutter sucht er jedoch das Weite.

Das Stück spricht mehrere Themen an: die fehlende Akzeptanz homosexueller Beziehungen bzw. überhaupt homosexueller Identität (Ivana und Dragica scheinen ihre lebenslange Liebe verborgen zu haben, und Dragica fällt es auch gegenüber den Freundinnen schwer, das zu benennen); der von der Korruption angefressene Glaube an den Rechtsstaat, der mangelnde Respekt gegenüber Alten, die mafiöse Baubranche, aber auch die Nostalgie angesichts einer mit einem Staatssystem verloren gegangenen Identität. Starke Frauenfiguren sind in südosteuropäischen Theaterstücken keine Seltenheit, ihre Kraft beziehen sie oft aus ihrer Beharrlichkeit. Diese Elemente zeigen sich auch in MEIN DU schon daran, dass alle männlichen Figuren unter „können wir sowieso nicht leiden“ zusammengefasst werden. Die Hauptfiguren in diesem Stück gehören gleich mehreren benachteiligten Gruppen an: Sie sind Frauen, sie sind alt, Dragica ist nicht heterosexuell und schließlich, der Gipfel des Nichtnormativen, ist ihre tote Freundin Ivana ein Geist.

Interessant ist auch die Form des Textes: Eine Erzählstimme, die nicht näher bestimmt, aber sehr charakteristisch und präsent ist, führt durch die Handlung, begleitet die Personen, scheint auch eine Meinung zu dem Geschehen zu haben, vermittelt uns nebenbei Hintergrundinformationen, moderiert das Geschehen und beschreibt die Wege der Frauenfiguren durch die Stadt. Ihre Figur ist nicht weiter festgelegt und könnte sowohl von einer Person gespielt als auch auf mehrere verteilt werden oder als Chor auftreten. Sie betont, dass wir im Theater sind, dass sich dort nicht alle Aspekte der Geschichte getreu wiedergeben lassen und macht das Stück auf diese Weise epischer. Dazu tragen auch die serbischen Schlager bei, die im Stück vorkommen (die Autorin hat eine wissenschaftliche Arbeit über serbische Schlager geschrieben). Sie lassen vermuten, dass die Figuren in dieser vergangenen Musikepoche eine emotionale Heimat finden.

 

Einige Fragen an die Übersetzerin Blažena Radas

Henning Bochert: Blažena, nach Erhalt des Eurodram-Stipendiums hast du dieses Stück zur Übersetzung gewählt. Wieso?

Blažena Radas: Olgas Stück hat mir sofort gefallen, weil ich die Frauenfiguren darin so wunderbar fand und weil es so etwas Kraftvolles und unglaublich Menschliches hat. Es ist auch außergewöhnlich, dass drei ältere Frauen die Hauptfiguren sind. Olga hat ja einen ganz „fassbinderischen“ Zugang zu ihren Stücken, und in diesem hier schlägt sich das in der Funktion der Schlagermusik nieder, die im ehemaligen Jugoslawien eher spaltet. Dass sie die älteren Damen in Schlagerliedern schwelgen lässt und dieser Musik neuen Wert verleiht, das hat etwas Versöhnliches.

Henning Bochert: Hätte es Alternativen gegeben? Welche?

Blažena Radas: Es gab noch zwei weitere Stücke, die zur Auswahl standen: Marija Karaklajićs KUĆA S TRI RUKE (Haus mit drei Händen) und Tamara Baračkov 50 UDARACA (50 Schläge). Ich muss sagen, dass ich alle drei sehr gut fand, aber letztlich hat mich die ungewöhnliche thematische Konstellation in MEIN DU am meisten überzeugt.

Henning Bochert: Welches waren die besonderen Herausforderungen bei der Übersetzung?

Blažena Radas: Zweierlei: Zum einen die Schlager natürlich, und zum anderen fand ich es spannend, einen passenden Ton für die drei Hauptfiguren zu finden. Ich habe mich gefragt, wie sich die Besonderheit der drei Frauen sprachlich widerspiegelt. Denn wir haben es hier mit Frauen zu tun, die weder einen Bruch mit ihrer Vergangenheit zulassen noch Zynismus oder Apathie Raum geben. Diese Komplexität sprachlich darzustellen war eine Herausforderung.

 

Sollten Sie Interesse haben, den Text zu lesen, wenden Sie sich bitte an die Koordinatorin des Deutschsprachigen Komitees (syha@gmx.net); wir stellen dann gerne einen Kontakt zur Übersetzerin her. 

AKTIVITÄTEN: EURODRAM-Jahresversammlung in Lissabon

Von Henning Bochert

Ganz im Westen Europas kamen sie zusammen: von Priština und Rom, von Paris und London, von Berlin und Tel Aviv und vielen anderen Orten. Zur 2018er Generalversammlung von Eurodram reisten 22 Teilnehmer, darunter die Koordinator*innen von 13 Sprachkomitees, nach Lissabon, wohin das portugiesischsprachige Komitee in Gestalt von Maria João Vicente und Carolina Mano großzügig eingeladen hatte. An vier Tagen stand unter dem Titel DEPOIS DE BABEL (NACH BABEL; einem Titel von George Steiner) ein gemischtes Programm aus internen Besprechungen und öffentlichen Veranstaltungen im Bereich Theaterübersetzung auf dem Plan.

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EURODRAM-Koordinatoren und einige Komitee-Mitglieder in Lissabon. – Foto: Marília Maia e Moura

Donnerstag, der 21. September 2017

Das Netzwerk Eurodram besteht derzeit aus 255 Mitgliedern in 23 Sprachkomitees. Nach der Ausschreibung 2017 zirkulierten insgesamt 338 Texte, aus denen 14 der Komitees eine Auswahl zur Empfehlung trafen. Diese Liste ist hier in den jeweiligen Sprachen abrufbar. Die vollständigen Stücktexte sind auf Nachfrage an die jeweiligen Komitees erhältlich.

In den ersten Stunden der Besprechungen präsentieren die anwesenden Koordinator*innen die Titel der Stücke ihrer diesjährigen Auswahl und prüfen ihre Verbindung zu deren Übersetzer*innen: Sind die bekannt, gehören sie zum Komitee? Aus welchen Sprachen wurden die Stücke übersetzt?

Das Teatro Taborda, in dem das Teatro da Garagem residiert und in dem alle Veranstaltungen stattfinden, liegt unmittelbar unter der Burgmauern des Castelo, inmitten der engsten Gässchen zwischen den berühmten gekachelten Häusern. In den Pausen treten die Teilnehmer hinaus in das bezaubernde Licht Lissabons, genießen Sonne und Schatten seiner charmanten Straßen und Plätze. Alle drei Schritte steht man vor einem neuen winzigen Restaurant, einer Leiteria oder einem Café. Hinter einer Häuserecke biegt abrupt rumpelnd die ikonische gelbe Straßenbahn hervor, prall mit Touristen gefüllt und tatsächlich kaum größer als eine Sardinendose. Die bewegte Topografie der Stadt bietet hinter jeder engen Biegung einen neuen verblüffenden Ausblick. Jeder Gedanke, den das mit Theaterstücken volle Hirn zulässt, befasst sich umgehend mit maurischen Epochen, der spärlich präsenten Romanik, dem alles zerstörenden Erdbeben 1755, das Raum gab für Neues im Stadtbild.

Der Tourismus hat, wie in vielen europäischen Hauptstädten, seine Schattenseiten. Eindeutig sehen sich die Lissabonner von seinen Ausmaßen bedroht. In Graffitis wie „mass tourism = human pollution“ drückt sich die klare Ablehnung der Situation aus, in der die Elektrorikschas von Tuk-Tuk massenhaft durch die Straßen gleiten oder eine Karawane aus orangefarbenen Touristen-Go-Karts durch die engen Straßen am Largo do Carmo knattern wie in Berlin die Trabi-Safaris.

An den Abenden bietet das Teatro da Garagem eine Reihe öffentlicher Lesungen an. Zunächst am Donnerstag die portugiesische Fassung des Stücks Cinderella Ltd. von Zdrava Kamenova und Gergana Dimitrov, übersetzt von Nadezhda Metodieva, gelesen von Schauspieler*innen und Student*innen der Theater- und Filmschule Lissabon ESTC.

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Bei der Arbeit im Teatro da Garagem. – Foto: Marília Maia e Moura

 

Freitag, der 22. September 2017

Nach dem luxuriösen Frühstück im Hotel gelangen die Teilnehmer zu Fuß (Französisch, Italienisch, Englisch), per U-Bahn (Deutsch, Hebräisch) oder Taxi (Ungarisch) zur nächsten Besprechung im Theater, das so anziehend wirkt, dass sich ganz Europa hier versammelt und nicht mehr fort möchte.

Zu den besprochenen Fragen gehören heute vor allem organisatorische wie die des dringend benötigten eigenen Internetauftritts unabhängig von dem der Maison d’Europe et de l’Orient, welche die zentrale Internetseite derzeit noch auf ihrer Seite sildav.org beherbergt. Über die technischen Aspekte wird lange gesprochen.

Auch die bessere Vernetzung der Komitees mit anderen Sprachen, um die Verbreitung der jeweils zur Empfehlung ausgewählten Texte der eigenen Sprache zu beschleunigen, ist ausgiebig Diskussionsgegenstand. Die Komitees überprüfen, inwieweit sie in ihren Reihen Theaterübersetzer*innen anderer Sprachen haben, die für die Vernetzung schon im Rahmen ihrer täglichen Arbeit sorgen können. Verfügen die einzelnen Komitees über eigene Websites? In mehreren Sprachen? Führen sie Veranstaltungen mit Partnertheatern durch, bei denen die Stücke z. B. in szenischen Lesungen öffentlich vorgestellt werden? Arbeiten sie mit den Sprach- und Theaterabteilungen der Universitäten zusammen? Wie lässt sich auch das verbessern?

Lissabon ist im Herbst die ideale Umgebung für diese Arbeit. Die Temperatur ist perfekt, angenehm zum Arbeiten und nicht zu heiß für Stadterkundungen. Immer wieder zerstreuen sich die Teilnehmer in die Gassen und Plätze hinauf zum Barrio Alto oder hinunter zum Ufer des Tejo, der hier, kurz vor der Mündung, so breit daherkommt wie ein Meerbusen, die weithin sichtbare Brücke über ihn gemahnt zwingend an die Golden Gate Bridge über der San Francisco Bay. Da steigt schon mal eine Besuchergruppe durch einen schlichten Kanaldeckel zwischen den Tramgleisen mitten auf der Straße aus der Erde, in der sie sich die umfangreichen römischen Fundamente zur Befestigung des Hafenbereichs mit ihren zahlreichen Gängen angesehen haben.

Am Abend präsentiert das Theater zuerst die portugiesische Version des Stücks Verloren im Nebel von Neda Nezhdana, die leider nicht anwesend sein kann. Übersetzt von Vladyslava Parfeniuk und wiederum szenisch gelesen von Studenten der ESTC.

Im Anschluss lesen Schauspieler*innen und Student*innen der ESTC auf Portugiesisch das Stück Common People der erfolgreichen Autorin Gianina Carbunariu (übersetzt von Corneliu Popa (mit Unterstützung des rumänischen Kulturinstituts)), deren Texte schon häufiger von unterschiedlichen Komitees ausgewählt wurden.

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Lesung des rumänischen Stückes „Common People“ von G. Carbunariu. – Foto: Marília Maia e Moura

 

Samstag, der 23. September 2017

Da fast alle Komitees ohne finanzielle Unterstützung bzw. überhaupt ohne Finanzmittel arbeiten, können viele Ideen häufig nicht in die Tat umgesetzt werden. Umso erstaunlicher, dass Eurodram dennoch derart aktiv ist. Um die Möglichkeiten zu erweitern, stellen sich aber Fragen wie: Müssen die einzelnen Sprachkomitees sich als Vereine konstituieren, um öffentliche Förderungen beantragen zu können? Die Frage, ob die zirkulierten Stücke nicht direkt und öffentlich über Eurodram zugänglich gemacht werden könnten, wird wegen Urheberrechtsfragen zurückgestellt. Immerhin aber soll eine Datenbank mit Zusammenfassungen und den wichtigsten Angaben in die zu schaffende Website integriert werden. Aber auch die Aktivitäten der einzelnen Komitees, ihre Wünsche und Möglichkeiten weiterer gegenseitiger Unterstützung finden Gehör. So meldet Andreas Flourakis, Theaterautor und Koordinator des griechischen Komitees, zum wiederholten Mal dringenden Bedarf nach Autorenfortbildung und Schreibwerkstätten in Griechenland an und ruft die Koordinatoren zu Unterstützung auf. Weiter fragt sich die Runde zum Beispiel, wieso in der türkischen Theaterlandschaft so wenige Übersetzungen von portugiesischen Theaterstücken zu finden seien und wieso überhaupt das öffentliche Interesse an der Komiteearbeit noch optimiert werden könnte. Liegt es an der Orientierung der Theater auf großen Unterhaltungsproduktionen? Und wie kann die Arbeit des BCSM-Komitees (Bosnisch-Kroatisch-Serbisch-Montenegrinisch) ausgebaut werden unter den besonderen Bedingungen dieses Sprachraums?

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Diskussionsrunde „Translating for theatre: concepts to consider“. – Foto: Marília Maia e Moura

Nach der letzten Sitzung, in der auch die Möglichkeiten der Versammlung im nächsten Jahr diskutiert und Einladungen von gleich mehreren Komitees ausgesprochen werden, sind die internen Debatten vorüber, und die Teilnehmer können sich nach Lust und Laune dem weiteren öffentlichen Programm hingeben. Eine Podiumsdiskussion zum Übersetzen von Theaterstücken mit der Übersetzerin und Dramaturgin Constança Carvalho, Dominique Dolmieu und Alexandra Moreira Da Silva wird von Nuno M. Cardoso, Regisseur und Mitglied des portugiesischen Komitees, moderiert. Das Verhältnis zu den übersetzten Autor*innen wird erörtert, in den beschriebenen Fällen ein sehr fruchtbares, und inwiefern Übersetzer*innen eine Autorenschaft haben. Beide Übersetzerinnen waren der Meinung, dass ihre Tätigkeit der von Autor*innen gleichzusetzen sei, was kontrovers besprochen wurde. Constança formulierte, dass eine Besonderheit des Theaterübersetzens darin bestehe, das linguistische und szenische Potenzial eines Textes in größerem Maße zu bewahren als beispielsweise bei literarischen Übersetzungen, wo zwischen Übersetzung und Leser nur das Gleiten der Augen über die Seite steht, während beim Theater noch einige andere Personen und –gruppen Hand und Hirn an den Text legen. Ein Beispiel von Alexandra zeigte auf, wie bei im Wort unlösbar scheinende Problemen das Theater auch die Möglichkeit bietet, auf die kreativen Mittel zu vertrauen, die im Inszenierungsprozess den Text noch interpretieren, so dass hier Bedeutungen gerettet bzw. gezeigt werden können, die im Text allein nicht zu bewältigen sind – eine häufig beruhigende Aussicht.

Das Teatro da Garagem zeigt den internationalen Gästen am Abend im bezaubernden kleinen Theatersaal eine englisch übertitelte Vorstellung von Ela diz (Sie sagt; geschrieben und inszeniert von Carlos J. Pessoa). Der strengen, gleichförmig langsamen Inszenierung des scheinbar formal stark gestalteten Texts über eine belastete Mutter-Tochter-Beziehung wurde vom Publikum unterschiedlich aufgenommen.

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„ELA DIZ“ von Carlos J. Pessoa. – Foto: Teatro Taborda.

Sonntag, der 24. September 2017

Der Sonntag lässt allen noch nicht Abgereisten Zeit für einen weiteren Spaziergang durch die Straßen. Die Stadt scheint ihren speziellen historischen Charme zu bewahren, indem sie eigenwillig groß angelegten Modernisierungen widersteht, die ihren Charakter zerstören. Stattdessen werden bestehende historische Gebäude mit viel Feingefühl mit modernem Inhalt gefüllt. Ein Beispiel ist das untere Gebäude des Hauptbahnhofs mit imposanter, maurisch anmutender Fassade sowie zahllose Gebäude in der Innenstadt, alle mehrere hundert Jahre alt, in denen sich Geschäfte für Bademoden, Fachgeschäfte für Gastronomiebedarf oder Stoffe, Kurzwaren oder eben die zahllosen Cafés befinden.

Am Nachmittag gibt es noch eine Lesung des russischen Stücks Cabaret Astoria (von Mikahil Heifts, übersetzt von Kostyantyn Myroshnychenko), wiederum mit Akteur*innen der ESTC. Nachmittags schließt eine öffentliche Diskussion über „Theater in Theater übersetzen“ zur Interpretation von Worten in Handlung, also Dramaturgie und Regie, auch das öffentliche Programm ab.

Dank der hervorragenden und großzügigen Planung des portugiesischen Komitees und des Teatro da Garagem entlässt Lissabon die aktiven Köpfe des Eurodram-Netzwerks gestärkt, neu orientiert und mit einem Koffer voller Pläne in die unterschiedlichen Regionen Europas, die neben der anstehende Ausschreibung und Auswahl für das kommende Jahr die Aufgabenlisten füllen werden, bis wir uns im nächsten Herbst anderswo wiedersehen.

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Foto: Marília Maia e Moura

 

Wer noch eine andere Stimme zur EURODRAM-Jahresversammlung in Lissabon hören möchte, findet hier den Bericht von Gilles Boulan (Koordinator des Französischen Komitees). Übersetzung: Wolfgang Barth.

http://vieuxloup.de/blog/2017/10/15/hauptversammlung-eurodram-21-9-bis-24-9-2017-in-lissabon-tagebuch-gilles-boulan/

PORTRÄT: Ivor Martinić

Ivor Martinić erzählt in „DRAMA ÜBER MIRJANA UND DIE MENSCHEN UM SIE HERUM“ in tragikomischen, manchmal auch todtraurigen Szenen vom Leben durchschnittlicher Menschen in einer osteuropäischen Stadt, von der Tristesse ihres Alltags und ihrem Bestreben, der eigenen Existenz allen Umständen zum Trotz einen Sinn zu verleihen.

Ein Gespräch mit dem Autor und der Übersetzerin Blažena Radas.

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Der kroatische Autor Ivor Martinić.

Im Zentrum des Stücks steht Mirjana, eine Frau Anfang vierzig. Mirjana ist Mutter, Tochter, Ex-Frau, Kollegin, Geliebte. Der Fokus liegt auf ihr, aber wir erleben durch sie auch eine Vielzahl anderer weiblicher Charaktere „um sie herum“. 

In Deutschland diskutieren wir immer wieder, dass es selbst in zeitgenössischen Stücken oft mehr Rollen für Männer gibt als für Frauen. Nicht so in „Drama über Mirjana und die Menschen um sie herum“. War es Ihr spezifisches Anliegen, ein Stück über oder gar für Frauen zu schreiben?

Ivor Martinić: Wir leben in einer patriarchalen Gesellschaft. In Europa spiegelt sich das in der unterschiedlichen Bezahlung, in den Arbeitsplatzbedingungen, in den Rollenzuweisungen in der Familie und in den Medien wider… Die Situation der Frauen in der heutigen Gesellschaft ist nicht einfach (und von der Vergangenheit wollen wir gar nicht erst sprechen). Frauen haben im Privat- und Berufsleben durchschnittlich mehr sozial und politisch bedingte Schwierigkeiten zu meistern. Deswegen verfügen Frauen oft auch über mehr Kompetenz als Männer, wenn es um Situationsmanagement und Problemlösungen geht.

Für mich ist es viel interessanter, über Frauen zu schreiben, da ich Frauen als Kämpferinnen erlebe, die sich fast alle ihre Entscheidungen erstreiten müssen. Im Hinblick auf den dramatischen Konflikt bieten weibliche Rollen mehr dramatische Möglichkeiten. Stücke stellen für mich immer eine Reaktion auf Probleme dar, die durch Veränderungen hervorgerufen werden. Ein Stück mit einer großen Anzahl an weiblichen Rollen zu schreiben ist für mich daher kein politisches oder künstlerisches Statement, sondern spiegelt nur meine politischen und künstlerischen Interessen wider.

Persönlich würde ich sehr gerne in einer Gesellschaft leben, in der die Unterscheidung zwischen männlichen und weiblichen Rollen obsolet ist, männliche und weibliche SchauspielerInnen alle Rollen spielen können und das keine Frage des Geschlechts ist. Das wäre für mich ein Zeichen, dass wir in einer wirklich gleichberechtigten Welt leben.

 

„Drama über Mirjana und die Menschen um sie herum“ wurde in Belgrad, Zagreb and Ljubljana inszeniert. Können Sie uns etwas von der Uraufführung erzählen? Wie eng arbeiten Sie mit einem Regisseur zusammen, wenn Sie ein Stück entwickeln? Gehen Sie regelmässig auf Proben? Und was waren die Unterschiede zwischen den einzelnen Produktionen?

Ivor Martinić: Das Stück wurde 2010 am „Yugoslav Drama Theatre“ uraufgeführt und ist dort – acht Jahre später – noch immer im Repertoire, wofür ich sehr dankbar bin. Ich habe die Produktion das letzte Mal vor einem Jahr gesehen und war sehr überrascht, wie mutig es war, dieses Stück so aufzuführen. Mutig aufgrund der Art und Weise, wie die Schauspieler die Rollen mit dramatischen Mitteln interpretieren, basierend auf dem „Alltags“-Thema des Stücks und einer fast an Beckett erinnernden Spielweise. Die Zuschauer mögen das Stück, auch wenn es ihnen nicht nur entgegenkommt. Es ist sehr langsam, es gibt kaum Figurenentwicklung. Das Stück erzählt ganz simple Alltagsmomente, es zeigt einen einzelnen Tag im Leben einer Frau. Ein Tag, der für ihr ganzes Leben stehen könnte. In dieser Inszenierung kommt es einem vor, als würde man durch ein Fenster das Leben einer realen Familie beobachten.

Im selben Jahr wurde das Stück mit großem Erfolg am Nationaltheater in Zagreb und am Stadttheater in Ljubljana aufgeführt. In Zagreb war der Zugriff der eines „Soul Musicals“, die Schauspieler sangen die Monologe. In Ljubljana zeichnete der berühmte slowenische Regisseur Dusan Jovanović für die Inszenierung verantwortlich. In dieser Produktion trugen die Schauspieler Masken, es stand die Frage im Mittelpunkt, wie Alltag auf der Bühne ästhetisch umgesetzt werden kann.

Ich gehe normalerweise nicht auf Proben, ich will, dass die Beteiligten sich dem Stoff völlig frei nähern. Ich möchte ihnen nicht all meine Entscheidungen erklären, und ich bin mir auch gar nicht sicher, ob ich auf alles eine Antwort hätte, und wenn ja, ob meine Antwort nicht vielleicht die falsche wäre.

 

Kommt es oft vor, dass ein Stück, das – beispielsweise – auf Kroatisch geschrieben wurde, auch in Serbien, Slowenien oder Bosnien-Herzegovina gezeigt wird? Gibt es in Ihren Augen eine spezifisch kroatische Dramatiker-Szene oder verschwimmen die verschiedenen Theaterszenen der Region miteinander?

Ivor Martinić: Die Sprache ist sehr ähnlich, fast identisch, daher ist es für andere Theatermacher leicht, ein Stück zu lesen, das beispielsweise auf Kroatisch geschrieben wurde. Ein Stück in jedem dieser Länder zu produzieren ist hingegen nicht so leicht. Dazu bräuchte man eine Menge Geld, über das die kulturelle Szene im Moment nicht verfügt. Die meisten Theater sind abhängig von staatlichen Subventionen, sie haben ein Repertoire im herkömmlichen Sinne. Wenn sie die richtigen Stücke auswählen, ist ihr Risiko relativ klein. Die Produktion eines zeitgenössischen Textes ist aber immer ein Risiko, auch wenn die Zuschauer Stücke mögen, die in einer Welt spielen, die ihnen vertraut ist.

Ich glaube schon, dass es eine spezifisch kroatische Dramatiker-Szene gibt. Es gibt hierzulande im Moment viele erfolgreiche Stückeschreiber: Tena Stivicic, Ivana Sajko, Vedrana Klepica, Goran Fercec… Aber wir haben keine einheitliche Ästhetik, daher es ist schwer, etwas Allgemeingültiges über unsere Texte zu sagen – abgesehen davon, dass wir alle aus demselben Land kommen.

 

 

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Die Übersetzerin Blažena Radas.

Woher kam der Anstoß, Ivor Martinićs Stück zu übersetzen? War es die erste Kooperation oder haben Sie schon andere Texte desselben Autors übersetzt?

Blažena Radas: Ich habe vor einigen Jahren ein Interview mit Ivor Martinić gelesen und fand ihn sehr interessant, auf eine herrlich unaufgeregte Weise. Daraufhin kontaktierte ich ihn und bat ihn, mir das Stück „Drama über Mirjana und die Menschen um sie herum“ zu schicken. Da ich von dem Stück begeistert war, beschloss ich, es zu übersetzen. Auf eigenes Risiko sozusagen, weil die Finanzierung nicht gesichert war.

 

Wie eng arbeiten Sie beim Übersetzen normalerweise mit einem Autor zusammen?

Blažena Radas: Das hängt ganz vom Stück ab und auch davon, ob ich eine Aufführung gesehen habe. In diesem Fall hatte ich das Glück, das Stück im kroatischen Nationaltheater in Split zu sehen und so einen Eindruck zu bekommen. Das hat mir bei der Übersetzung sehr geholfen.

Im Grunde ist eine Aufführung fast wichtiger als der Austausch mit dem Autor, die Aufführung beantwortet ungeklärte Fragen am besten.

 

Wie schwierig ist es, von der Perspektive des Übersetzers aus, Übersetzungen osteuropäischer Dramatik an die Theater im deutschsprachigen Raum zu vermitteln?

Gibt es Themen oder ästhetische Formen, die Sie als spezifisch kroatisch oder serbisch beschreiben würden – Themen und ästhetische Formen, die so in der zeitgenössischen deutschsprachigen Dramatik vielleicht nicht zu finden sind?

Blažena Radas: Für diese Frage bin ich sehr dankbar! Es ist beides, schwierig und einfach, ein osteuropäisches Stück an deutsche Theater zu vermitteln. Einfach ist es, wenn die Region, aus welchen Gründen auch immer, im Fokus der westeuropäischen Aufmerksamkeit steht. Das waren in der letzten Zeit der Krieg und die Transition von einem sozialistischen in einen demokratischen kapitalistischen Staat. Allerdings habe ich auch oft die Erfahrung gemacht, dass man osteuropäische Stücke nur in diesem Kontext wahrnimmt, als hätten sie nur dann eine Chance, wenn sie bestimmte Klischees bedienten, wenn sie das „Andere“ reflektieren oder das „Balkanische“.

Darum bin ich EURODRAM sehr dankbar, weil mit dem „Drama um Mirjana und die Menschen um sie herum“ ein Stück ausgewählt wurde, das mutig genug ist, von kleinen und gleichzeitig universellen Themen zu sprechen.

Spezifisch kroatische oder serbische Themen sind meiner Ansicht nach die noch immer andauernden Transitionsprozesse und das Vakuum, das sie zurücklassen. In beiden Ländern ist das Verhältnis zur Vergangenheit nicht aufgearbeitet, und die Frage nach der Identität wird auf Nationalität und Religion reduziert. Beide Gesellschaften erfahren einen Wertewandel: Der dominante Diskurs stellt die nationale und religiöse Zugehörigkeit über alles andere, Arbeit und Bildung werden beispielsweise abgewertet, sie spielen für das Selbstverständnis kaum eine Rolle. Diese Themen sind spezifisch für Osteuropa, aber wenn man sie weiterdenkt, sind sie auch universell.

Das Gespräch führte Ulrike Syha

 

BIOGRAPHIE Ivor Martinić:

Der preisgekrönte kroatische Autor Ivor Martinić hat an der „Academy of Dramatic Art “ in Zagreb Dramaturgie studiert. Sein Stück „The title of the drama about Ante is Written here“ wurde vom Stadttheater in Split, vom Blue Elephant Theatre in London und vom Théâtre des Chardons in Brüssel aufgeführt. Sein Stück „Drama über Mirjana und die Menschen um sie herum“ wurde am Yugoslav Drama Theatre (Belgrad), am Nationaltheater Zagreb und am Stadttheater in Ljubljana inszeniert.

Sein neuestes Stück „My son only walks a little slower“ wurde am Zagreb Youth Theatre uraufgeführt. Die Inszenierung hat über zwanzig Preise gewonnen, darunter den Golden Laurel Award für das beste Stück beim MESS Festival in Sarajevo und den Preis der „Croatian Associaton of Dramatic artists“, ebenfalls für das beste Stück. Das Stück wurde außerdem erfolgreich in Buenos Aires, Asuncion, Montevideo, Mexico, Madrid und Belgrad gezeigt. Auch die Inszenierung in Buenos Aires wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Preis der argentinischen Kritiker für die beste freie Produktion.

Martinićs Stücke wurden in 15 Sprachen übersetzt.

 

BIOGRAPHIE Blažena Radas:

Blažena Radas (*1967 in Wien) hat Germanistik und Slavistik an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg studiert. Sie ist freischaffende Literaturübersetzerin und lehrte Filmgeschichte und Filmanalyse zunächst an der London Metropolitan University und seit 2011 an der Kunstakademie in Split. Aus dem Bosnischen, Kroatischen und Serbischen hat sie zahlreiche zeitgenössische Romane und Theaterstücke ins Deutsche übersetzt, unter anderem von Olja Savičević Ivančević, Mate Matišić, Srećko Horvat, Robert Perišić. Sie lebt in Split und Heidelberg und engagiert sich für den kulturellen Austausch zwischen Deutschland und Kroatien.

PORTRÄT: Alexander Manuiloff

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Der bulgarische Autor Alexander Manuiloff.

2013. In Bulgarien wüten die Februar-Proteste. Hunderttausende von Menschen erheben ihre Stimme. Gegen die Armut, gegen zu hohe Stromrechnungen, gegen einen Staatsapparat, der von Korruption geprägt und von mafiösen Strukturen unterwandert ist.

In den Morgenstunden des 20. Februars erscheint der 36jährige Plamen Goranov vor dem regionalen Landtag von Varna an der Schwarzmeerküste. Er hat ein Banner bei sich – und Benzin. Wenige Minuten später steht er in Flammen. Am 3. März erliegt er seinen Verletzungen.

Plamen Goranov ist nicht der einzige bulgarische Aktivist, der sich während der Februar-Proteste selbst verbrennt. Aber Goranov avanciert posthum zu einer Ikone des Widerstands – seine Mitstreiterinnen stilisieren ihn zu einem bulgarischen Jan Palach, zu einem bulgarischen Mohamed Bouazizi.

Und von eben dieser öffentlichen Selbstverbrennung des Plamen Goranov handelt Alexander Manuiloffs Theatertext „Der Staat“, den Hannes Becker ins Deutsche übersetzt hat. Zumindest ist der Text dem „Gedenken an Plamen Goranov“ gewidmet und erzählt auch immer wieder von Goranov und seinen Vorbereitungen für die Selbstverbrennung. Was aber noch lange nicht heißt, dass er davon handelt. Nein! Manuiloffs „Der Staat“ handelt nicht von Goranovs Selbstverbrennung.

Alexander Manuiloffs Theatertext „Der Staat“ ist auch gar kein Theatertext. Stattdessen bezeichnet Manuiloff ihn als „ein Text-Design“ und stellt ihm eine dezidierte „Gebrauchsanweisung“ voran. Dass „Der Staat“ zum Beispiel „nicht im klassischen Sinn des Wortes ‚aufgeführt‘ werden“ solle und dass zum Beispiel „keine Schauspieler benötigt“ würden. Gleichzeitig bezeichnet er seinen „Staat“ in dieser Gebrauchsanweisung als „Stück“ und verfügt: „Die ganze Veranstaltung [womit der Autor die Umsetzung seines ‚Text-Designs‘ meint] soll in einem Theater stattfinden.“ Zu Recht! Denn Manuiloffs „Text-Design“ „Der Staat“ ist ganz eindeutig ein Theatertext.

Immer wieder thematisiert dieser Theatertext seine eigene Umsetzung, die er „Vorführung“ nennt. Bereits kurz nach Beginn stellt der Text fest, dass die Vorführung, die gerade eben begonnen hat, erst in fünf Minuten beginnen werde. Und wie ein Mantra durchzieht diese vermeintliche und immer wieder aufs Neue verschobene Verschiebung des Anfangs die gesamte Vorführung: Sie werde erst in drei Stunden beginnen, in acht Stunden und fünf Minuten, in zwei Stunden und 45 Minuten, in sechs Stunden. Wird die Vorführung jemals beginnen? Nein. „Die Vorführung kann nicht beginnen“. Weil die Genehmigung fehle, weil die Mittel gekürzt worden seien und weil es keinen Regisseur gebe. Nicht zuletzt, weil sie irrelevant sei und keinen Sinn habe. Schließlich könne die Vorführung nichts verändern, sehr viel wichtigere Dinge ständen auf der Agenda. Und deshalb ist es nur konsequent, wenn Manuiloff mitten in seinem Theatertext schreibt: „Die Vorführung muss jetzt aufhören, weil sie einen Verstoß gegen alle etablierten Grundregeln des Theaters darstellt.“

Das ist der Punkt. Alexander Manuiloffs „Der Staat“ widersetzt sich dem System „Theater“. Keine Schauspielerinnen, keine Bühne, kein Regiezugriff. Stattdessen einfach nur das Publikum in einem Raum. In dessen Mitte ein Tisch. Auf dem Tisch ein Kasten. Im Kasten Briefe. Jeder Brief eine Seite Text aus dem „Staat“. Sortiert. Von vorne nach hinten. Vom Anfang, der nicht beginnen will, bis zum Ende, das nicht aufhören darf. „Es ist das Publikum, das die Briefe laut vorlesen und so eine eigene kleine Gesellschaft erschaffen soll, seine eigenen Regeln wie mit der Situation verfahren wird und seine eigene unverwechselbare Vorführung“, schreibt Manuiloff in der Gebrauchsanweisung für eben diese unverwechselbare Vorführung, die keine Theatervorstellung, sondern vielleicht eine Performance, eine Installation ist. Schließlich ist dieser Theatertext ja auch kein Theatertext, sondern ein „Text-Design“. Nicht wahr?

Nicht wahr. Dieses „Text-Design“ ist ganz eindeutig ein Theatertext. Denn der Dramaturg und Autor Alexander Manuiloff kennt die „etablierten Grundregeln des Theaters“ sehr genau. Und eben diese Kenntnis erlaubt es ihm, die engen Grenzen des herkömmlichen Theaters aufzubrechen, sie zu verschieben und zu überwinden. Diese engen Grenzen ermöglichen es ihm überhaupt erst, Fragen zu stellen, die das Theater vergessen zu haben scheint. Weil wir sie vergessen haben. Das Publikum. Oder fragen Sie sich etwa im Theater, ob die Vorstellung, der sie gerade beiwohnen, etwas verändert? Ich zumindest nicht. Nicht mehr. Zwar ist mir durchaus bewusst, dass „sehr viel wichtigere Dinge auf der Agenda [stehen]“. Aber warum sollten diese „wichtigeren Dinge“ ausgerechnet im Theater verhandelt werden? Darum! Weil das Theater Auseinandersetzung mit der Welt ist. Und weil Zurücklehnen jegliche Auseinandersetzung lahmlegt. Wir müssen uns entscheiden: Konsum oder Partizipation. Und deshalb lässt Manuiloff sein Publikum, das er aus seinen plüschigen Sesseln gerissen hat, gegen Ende der „Vorführung“ einen Brief vorlesen, der weniger ein Angebot als vielmehr eine Aufforderung ist: „Lasst uns jetzt das Licht anmachen, und eine Diskussion führen!“

Alexander Manuiloffs Text „Der Staat“ handelt also vom Theater. Er ist selbstreferentiell, theoretisch und sperrig. Er bricht die Gesetze des herkömmlichen Theaters mit seiner offenen Form auf und bedient sich dokumentarischer, partizipatorischer und performativer Elemente. Um sie im nächsten Moment wieder in Frage zu stellen. Denn „Der Staat“ will dem herkömmlichen Theater keine lange Nase drehen, will es nicht vor den Kopf stoßen, will nicht der Provokation wegen provozieren. Nein. „Der Staat“ will eine Diskussion initiieren, eine Auseinandersetzung. Über und mit dem Theater. Ja. Aber nicht nur. Sondern auch über die Welt und mit der Welt. Denn Theater kann nur Welt meinen. Und deshalb handelt „Der Staat“ auch nicht nur vom Theater. Er handelt von der Welt, von der Möglichkeit eines respektvollen Miteinanders und von der öffentlichen Selbstverbrennung des Plamen Goranov.  Und das ist es, was mir diesen Text so sympathisch macht. Dass er vornehmlich von einer Frage handelt, die ich gerade im Theater wieder so dringend hören möchte: Wie wollen und können und sollen wir miteinander leben?

Carsten Brandau

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Der Übersetzer Hannes Becker.

ALEXANDER MANUILOFF ist ein preisgekrönter Autor aus Sofia / Bulgarien. Seine Stücke und Theaterarbeiten wurden zu vielen internationalen Festivals eingeladen. Auf seinen Drehbüchern basierende Filme waren ebenfalls bereits in zahlreichen Ländern zu sehen. Manuiloff’s Text „Der Staat“ wurde 2015 beim renommierten Stückemarkt des Berliner Theatertreffens als Lese-Performance gezeigt.

HANNES BECKER, geboren 1982 in Frankfurt am Main, lebt in Leipzig. Autor und Übersetzer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin (www.zfl-berlin.org). Mitglied des Ensemble-Netzwerks und des Iltis-Projektchors, außerdem Beiträge auf www.dasuntergehendeschiff.blogspot.com.

 

AUSWAHL 2017

Die Eurodram-Auswahl 2017 steht fest.

Das DEUTSCHSPRACHIGE KOMITEE hat sich in diesem Jahr für die folgenden Titel entschieden (in alphabetischer Reihenfolge):

Alexander Manuiloff:
„Der Staat“
(Aus dem Bulgarischen / Englischen von Hannes Becker)

Ivor Martinić:
„Drama über Mirjana und die Menschen um sie herum“
(Aus dem Kroatischen von Blazena Radas)

Simona Semenič:
„sieben köchinnen, vier soldaten und drei sophien“
(Aus dem Slowenischen von Urška Brodar)

Wir gratulieren den AutorInnen und ÜbersetzerInnen herzlich!

Wer das mit der Ausschreibung verbundene Übersetzer-Stipendium erhält, veröffentlichen wir in der kommenden Woche.

Die erste Veranstaltung mit der neuen Auswahl wird voraussichtlich am 23. bis 25. Juni in Mannheim im Theaterhaus G7 stattfinden. Dazu demnächst noch mehr.

Außerdem werden wir in den nächsten Wochen Artikel zu den einzelnen Titeln der Auswahl auf unserem Blog veröffentlichen.

Auch in diesem Jahr haben uns wieder viele Texte begeistert, die nicht alle einen Platz in unserer Auswahl finden können. Deswegen veröffentlichen wir wieder eine Liste unserer „Weiteren Empfehlungen“ (in alphabetischer Reihenfolge):

Lucie Depauw:
Dekompressionskammer.
(Aus dem Französischen von Wolfgang Barth.)

Julie Maj Jacobsen:
Abgefuckt.
(Aus dem Dänischen von Franziska Koller)

Koffi Kwahulé:
Misterioso.
(Aus dem Französischen von Heinz Schwarzinger.)

Jacques Probst:
Sturm über Eastbourne.
(Aus dem Französischen von Yves Raeber.)

Sollten Sie Interesse an einem der Texte haben, stellen wir gerne einen Kontakt her.

UND HIER FINDEN SIE DIE ERGEBNISSE DER ANDEREN EURODRAM-KOMITEES:

Bosanski/Crnogorski/Hrvatski/Srpski :
– Himmelweg, Huan Majorga (Juan Mayorga), sa španskog prevela Jasna Stojanović
– Ja sam vetar (Eg er vinden), Jun Fose (Jon Fosse), s norveškog preveo Radoš Kosović
– Jedini ja utekoh (Escaped alone), Keril Čerčil (Caryl Churchill), sa engleskog prevela Ivana Brozić
– Moja mama Kleopatra (Anyám, Kléopátra), Atila Bartis (Attila Bartis), s mađarskog prevela Xenia Detoni

Български (Bulgarian) :
– Каре (Els jugadors), Пау Мирò (Pau Miró), превод от каталонски Нева Мичева
– Нелегални помагачи (Illegale Helfer), Макси Обексер (Maxi Obexer), превод от немски Гергана Димитрова

Deutsch :
– Der Staat (The State), von Alexander Manuiloff, übersetzt aus dem Englischen von Hannes Becker
– Drama über Mirjana und die Menschen um sie herum (Drama o Mirjani i ovima oko nje), von Ivor Martinić, übersetzt aus dem Kroatischen von Blazena Radas
– Sieben Köchinnen, vier Soldaten und drei Sophien (Sedem kuharic, štirje soldati in tri Sofije), von Simona Semenič, übersetzt aus dem Slowenischen von Urška Brodar

Ελληνικά (Greek) :
– Heisenberg του Σάιμον Στίβενς (αρχική γλώσσα γραφής Αγγλικά) σε μετάφραση του Μενέλαου Καραντζά
Heisenberg, by Simon Stephens, translated from English by Menelaos Karantzas
– Το μικρό πόνι του Πάκο Μπεθέρα (αρχική γλώσσα γραφής Ισπανικά) σε μετάφραση της Μαρίας Χατζηεμμανουήλ.
Το μικρό πόνι (El pequeño poni), by Paco Bezerra, translated from Spanish by Maria Chatziemmanouil
– Η κοπέλα από το πρακτορείο ταξιδίων μας είπε ότι το διαμέρισμα έχει πισίνα του Πάμπλο Γκισμπέρτ (αρχική γλώσσα γραφής Ισπανικά), σε μετάφραση της Κυριακής Χριστοφορίδη
Η κοπέλα από το πρακτορείο ταξιδίων μας είπε ότι το διαμέρισμα έχει πισίνα (La chica de la agencia de viajes nos dijo que había piscina en el apartamento), by Pablo Gisbert, translated from Spanish by Kiriaki Christoforidi

English :
– Mihaela, the tiger of our town – A mockumentary play (Mihaela, tigrul din orașul nostru), by Gianina Cărbunariu, translated from Romanian by James Christian Brown
– A play with four actors and some pigs and some cows and some horses and a prime minister and a Milka cow and some local and international inspectors (Një shfaqje teatri me katër aktorë me disa derra me disa lopë me disa kuaj me një kryeministër me një milka e me disa inspektorë vendës e ndërkombëtarë), by Jeton Neziraj, translated from Albanian by Alexandra Channer
– Who is Mr Schmitt ? (Qui est Monsieur Schmitt ?), by Sébastien Thiéry, translated from French by Charlie Gobbett

Español :
– Ejercicio para rodillas fuertes (Ασκήσεις για γερά γόνατα), por Andreas Flourakis, traducida del griego por Marilena Paterianaki

Français :
– Good Bye Europa. Lost Words de Davide Carnevali, traduit de l’italien par Caroline Michel
– J’appelle mes frères (Jag ringer mina bröder), de Jonas Hassen Khemiri, traduit du suédois par Marianne Segol
– Notre classe (Nasza klasa), de Tadeusz Słobodzianek, traduit du polonais par Cécile Bocianowski

עִבְרִית (Hebrew) :
רכניץ (מלאך החנק) מאת אלפרידה ילינק תרגם מגרמנית חנן אלשטיין
– (Rechnitz), by Elfriede Jelinek, translated from German by Hanan Elstein
גנבים מאת דיאה לוהר תרגמה מגרמנית עינת ברנובסקי
– (Diebe), by Dea Loher, translated from German by Einat Baranovsky
איך אתה מספר את המשחק מאת יסמינה רזה תרגם מצרפתית ניר רצ׳קובסקי
– (Comment vous racontez la partie), by Yasmina Reza, translated from French by Nir Ratzkovsky

Magyar :
– Selection delayed due to force majeure – will be online soon.

Italiano :
– Every Brilliant Thing, di Duncan Macmillan, tradotto dall’inglese da Michele Panella
– Voglio un paese (Θέλω μια χώρα), di Andreas Flourakis, tradotto dal greco da Gilda Tentorio
– Se questo fosse uno spettacolo… (Kad bo ovo bila predstava…), di Almir Imširević, tradotto dal bosniaco da Elisa Copetti

Polski :
– Ja sam uszedłem (Escaped alone), Caryl Churchill, przekład z języka angielskiego Małgorzata Semil
– System Ponziego (Le Système de Ponzi), David Lescot, przekład z języka francuskiego Piotr Olkusz
– Jesień poddanych (Der Herbst der Untertanen), Nino Haratischwili, przekład z języka niemieckiego Iwona Uberman

Português :
– Totalmente Esquecer-te (Totally Over You), de Mark Ravenhill, traduzido do Inglês por Jorge Louraço Figueira
– Quero Um País (Θέλω Μια Χώρα), de Andreas Flourakis, traduzido do Grego por José António Costa Ideias
– O Padrão da Raça (Standard of the Breed), de John Steppling, traduzido do Inglês por Nuno Santos

Română :
– Căpcăuni (Les Ogres), Yann Verburgh, traducere din limba franceză de Eugen Jebeleanu
– Trucul lui Patrick (Patricks Trick), Kristo Šagor, traducere din limba germană de Ciprian Marinescu
– Hikikomori, Holger Schober, traducere din limba germană de Ciprian Marinescu

Shqip (Albanian) :
– Demoni nga Debar Maalo (Demonot od Debar Maalo), nga Goran Stefanovski, përktheu nga maqedonishtja Milena Selimi
– Lasicët (Lasice), nga Bojana Mijović, përktheu nga gjuha malazeze Shkelzen Maliqi
– Mihaela, tigresha e qytetit tonë (Mihaela, tigrul din orașul nostru), nga Gianina Cărbunariu, përktheu nga rumanishtja Ardian Ch. Kyçyku

Türkçe :
– Beklenmeyen Gece (The Way We Get By), yazan Neil La Bute, çevirinin yapıldığı dil İngilizce, çeviren Ceren Aksakal
– Kış Dönümü (Midwinter), yazan Zinnie Harris, çevirinin yapıldığı dil İngilizce, çeviren Rasim Erdem Avşar
– Kosovalı Peer Gynt (Peer Gynti nga Kosova), yazan Jeton Neziraj, çevirinin yapıldığı dil Arnavutça, çeviren Senem Cevher, Arnavutça’dan İngilizce’ye çeviren Alexandra Channer.

Украинский (Ukrainien) :
– Selection delayed due to force majeure – will be online soon.

AKTIVITÄTEN: Veranstaltung am Theater Drachengasse / Wien

Theaterstücke sollen gespielt werden. Eine sicher häufig genussvolle Lektüre wird dem Wesen von Theaterstücken nicht gerecht, fehlt doch das entscheidende Element: der Körper auf der Bühne.

So war es für das Deutschsprachige Komitee eine besondere Freude, seine diesjährige Auswahl der drei als besonders empfehlenswert empfundenen Theaterstücke auf Einladung des Theaters Drachengasse am 28. November 2016 dem Wiener Publikum vorzustellen.

Aus über 140 Theaterstücken – originalsprachlich deutsch -, die im Jahr 2016 eingesandt wurden, wählte das Komitee Henriette Dushes VON EINER LANGEN REISE AUF EINER HEUTE ÜBERHAUPT NICHT MEHR WEITEN STRECKE, Christina Ketterings ANTARKTIS und Maxi Obexers ILLEGALE HELFER aus.

Schon im vergangenen Jahr konnten wir zum ersten Mal der Einladung des Theaters Drachengasse folgen. Auch in diesem Jahr richteten Sandra Schüddekopf und Milena Michalek wieder drei wunderbare szenische Lesungen ein, die mit ihren jeweils 20 Minuten Dauer die Stücke eindrücklich vorstellten, was ohne den leidenschaftlichen und humorvollen Einsatz der Darsteller*innen nicht möglich gewesen wäre. Roman Blumenschein, Katrin Grumeth, Johanna Orsini-Rosenberg, Christina Scherrer, Lisa Schrammel, Thomas Stolzeti verliehen der Spannung zwischen moralischem und juristischem Recht in den HELFERN, dem tragischen Humor in ANTARKTIS und der Hoffnung und der Verzweiflung in der REISE Stimme und Leben.

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Das Ensemble der szenischen Lesungen: Katrin Grumeth, Thomas Stolzeti, Christina Scherrer, Johanna Orsini-Rosenberg, Lisa Schrammel, Roman Blumenschein – Copyright: Theater Drachengasse

Dank der Unterstützung des Deutschen Literaturfonds konnte das Deutschsprachige Komitee 2016 drei Stipendien finanzieren und drei ÜbersetzerInnen ihren jeweiligen Text-Favoriten in eine andere Sprache übersetzen lassen. Dr. Iwona Uberman übersetzte Henriette Dushes REISE ins Polnische, Katharina Stalder übertrug Christina Ketterings ANTARKTIS ins Französische, und dank Gergana Dimitrova gibt es Maxi Obexers HELFER auf Bulgarisch.

Wir freuen uns, dass von den Autorinnen Christina Kettering und außerdem alle drei Übersetzerinnen anwesend waren und im Gespräch jeweils nach den Lesungen vorgestellt werden konnten. Welche Diskussionen stoßen die HELFER in Bulgarien an, wieso resoniert die REISE in Polen, und was fasziniert ein französisches Publikum an den Ereignissen in der ANTARKTIS? Die Komiteemitglieder Ulrike Syha, Henning Bochert und Christian Mayer diskutierten mit den Gästen und dem interessierten Publikum Fragen zur Situation der Theaterlandschaft in Frankreich, Polen und Bulgarien. Dimitrova, Koordinatorin des bulgarischen Komitees, sprach über den Grenzzaun zwischen Bulgarien und Türkei sowie über ihre Produktionsgruppe 36monkeys, Uberman berichtete über die verheerenden Auswirkungen der rechtskonservativen Politik der Regierungspartei PiS auf das Kulturleben in Polen. Kettering sprach über das Entstehen von ANTARKTIS und Stalder schilderte, auf welche Weise das Stück im französischen Theater rezipiert werden kann.

Wie schon die Veranstaltung im April 2016 beim Festival 4+1 im Schauspiel Leipzig sind Veranstaltungen dieser Art unerlässlich, um unsere Arbeit sichtbar und theatergerecht zu präsentieren. Wir senden einen großen Dank an das Theater Drachengasse und seine Förderer, die die Veranstaltung möglich gemacht haben.

Henning Bochert

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Christian Mayer im Gespräch mit Übersetzerin Gergana Dimitrova. – Copyright: Theater Drachengasse